Ein schärferer Kontrast ist kaum denkbar. Am Freitagabend sahen wir in Madrid eine klassisch stilisierte, der Ästhetik des Schönen verpflichtete Clemenza di Tito, bei der alle Leidenschaft, so bedrohlich sie auch sein mag, doch immer maßvoll bleibt, eine Inszenierung, die in keinem Augenblick gegen die Konventionen verstößt oder gar das Publikum in seinen Vorstellungen und Erwartungen schockiert und provoziert. Am Sonntagabend sahen wir in Berlin einen den Trash stilisierenden, der Ästhetik des Hässlichen verpflichteten Freischütz, bei dem alle Leidenschaft bedrohlich und tödlich, sadistisch und pervers wird, sich maßlos austobt, eine Inszenierung, die permanent gegen die Konventionen verstößt, die das Publikum ständig provoziert und schockiert – und es glänzend unterhält. Dort bei den Herrmanns klassisches Theater in hoher Perfektion. Hier bei Calixto Bieito antiklassisches Theater in hoher Perfektion: schwarze Romantik, Psychothriller, Horrorthriller und Pulp Fiction. Eine Groteske, die provoziert und unterhält. Theatermacher Bieito treibt gleich zur Ouvertüre im ganz konkreten Sinne die Sau durch den schauerromantischen Wald, lässt eine blutrünstige, gewalttätige Unterschichtenmeute ein Reh (natürlich eine junge Frau) jagen, erlegen, zerstückeln, sich mit Blut besudeln und den armen, verstörten Max erniedrigen und verspotten („Max, du Versager“) und schließlich vernichten. Nur konsequent ist, dass dieser geschundene Max dem Wahnsinn verfällt, gleichsam zum Tier wird, das die eigene Braut anfällt und zu vergewaltigen sucht, im Finale mit der Maschinenpistole herumballert, den bösen Kaspar erschießt und die arme Agathe dazu und dass er nach dem scheinbar versöhnlichen Finale, das die Meute als Komödie und Parodie aufführt, einfach wie ein räudiges wildes Tier abgeknallt wird und dass der Eremit, „der heilige Mann“, der nach seinem Outfit zu urteilen wohl einer Bande von Gothics angehört, so nebenbei auch noch ins Jenseits befördert wird.
Von der einstigen deutschen Nationaloper bleibt bei Bieito nichts mehr übrig. Sie wird gleichsam auf den Kopf gestellt, und alle Abgründe, die sich unter der scheinbar so biedermeierlichen Handlung (und Musik) verbergen, tun sich auf. Eine Konzeption, die die Regie mit einer Fülle von Verweisen konkretisiert. Schwarze Romantik oder auch Goyas Desasters de la Guerra machen dabei noch den geringsten Teil der Zitate aus. Ausgiebig bedient sich die Regie bei den Klischees, wie sie sie die Horror- und die Psychothriller bereit stellen. Das geht hin bis zur Modellierung der Personen. Die Figur des Max, so schien es mir, ist in Aussehen und Maske nach dem Modell eines Jack Nicholson und eines Brad Pitt aus Stanley Kubricks The Shining bzw. Dominic Senas Kalifornia gestaltet. So bleiben denn in Bieitos Freischütz alle Gewalt und Vernichtung, so spektakulär sie auch sind, nicht-authentisches Material, Zitat und Verweis, Appell an das ‚kulturelle‘ Gedächtnis der Zuschauer, ein Spiel mit dem Zuschauer, der den ihm so vertrauten Freischütz mit den Horrorszenen amerikanischer Kultfilme, den Klischees der Schauerromantik (von Lewis bis zu E.T.A. Hoffmann) überblenden soll. Und der dies auch mit Vergnügen tut, zumal es ja bei allem Schaurigen, was da präsentiert wird, nicht an Komik mangelt. Da suchen die beiden Damen, mit tragbaren Scheinwerfern ausgerüstet, im dunklen Wald nach ihrem – gemeinsamen (?)- Liebhaber Max und während Agathe ihre Kavatine singt, flüchtet sich Ännchen in den Wald (zum Date mit Max?). Da feiert Agathe mit den ‚Brautjungfern‘, reifen Damen, die sich keine Lust versagen, einen deftigen Junggesellen Abschied, und das frustrierte Ännchen will unbedingt einen Mann und das jetzt gleich. Und wie könnte es anders sein: gerade die stärksten Gewaltszenen neigen – eben durch das Stilmittel der Übertreibung – zur Parodie. Da sticht der sadistisch-perverse Kaspar in der Wolfsschlucht eine fremde Braut nieder und zieht die „Freikugeln“ unter deren Kleid hervor, während phallisch aufgerichtete Baumstämme sich heftig bewegen. Da beißt der auf das Animalische reduzierte Max den Anführer der Meute schon mal ins Bein, da mimt der vom Wahnsinn Befallene den toten Christus, und Agathe als neue Maria beugt sich tröstend über ihn.
Ein Freischütz, wie ihn sich die Bieito Fans von ihrem Idol erwarten. Eine Inszenierung ‚gegen den Strich‘, eine Dekonstruktion des Überkommenen. Gewalt und Blut und Sex, doch nicht um ihrer selbst willen, sondern als Zitat, als Groteske, als ein Aufdeckten verdrängter Möglichkeiten. Von der Inszenierung her ein großer Theaterabend. Von Musik und Gesang her eine Aufführung, die dem Niveau der Komischen Oper entspricht: manches herausragend, manches nur mittelmäßig. Wir sahen die Aufführung am 4. März, die sechste Vorstellung seit der Premiere am 29. Januar 2012.