Nein, es ist nicht der junge Gott Bacchus, der der schönen Lisa erscheint, sondern ein Säufer und Penner, ein Spieler und ein Gestörter ist der Traummann, der bei ihr fensterlt. Und Lisa ist auch keine in Trauer, Melancholie und Todessehnsucht versunkene Prinzessin Ariadne, sondern eine gerade aus dem Mädchenpensionat entlassene Träumerin, die sich vor der Verheiratung fürchtet und gleich dem ersten Dahergelaufenen, der ihr von der großen Liebe singt, zufällt – im Wortverstande. Ein Mägdelein aus der Familie der Madame Bovary. Und ihr Tod ist auch gar nicht tragisch, sondern nur traurig. Der Gestörte stürzt dem vermeintlich großen Gelde nach, die Verlassene stürzt sich ins Wasser. Oder vielleicht auch nicht? Ein Schiff nimmt sie auf. Der „Herr über ein Schiff“ ist nicht der Gott Bacchus, sondern der Spielleiter, ein weiblicher Mephisto mit roter Perücke. Mephisto spielt im Stück in den unterschiedlichsten Rollen mit: als Kammerzofe, als Briefbote, als Bote aus dem Totenreich, als Bankhalter beim letzten Spiel, als Incubus im Bett der greisen Gräfin, als Tänzer beim Todesreigen für die Gräfin. Mephisto inszeniert, den Akteuren unbewusst, das Stück als Antimysterienspiel, bei dem es für diese keine Rettung gibt, sondern nur den Tod: für den Spieler Hermann den Selbstmord, für die Gräfin den Infarkt nach einem finalen grotesken Orgasmus, für Lisa die Illusion einer Rettung auf das Schiff des Mephisto. Spätestens an dieser Stelle wird auch dem Unbedarftesten unter den Zuschauern der Clou oder besser gesagt: die Grundkonzeption der Inszenierung deutlich. Konwitschny spielt Metatheater, und anders als sein Protagonist Hermann gewinnt er das Spiel, inszeniert brillant und überzeugend Theater auf dem Theater. Und nicht nur das. Auch in Graz ist Konwitschny seinem Stil treu geblieben: er zerstört die Mythen und Märchen, setzt sie neu zusammen, erzählt die alten Geschichten neu, aktualisiert sie, überführt sie in Parodie und Satire, zerstört die Illusionen, ohne die Figuren (die weiblichen) zu vernichten, hat Mitleid mit den Schwachen (wie mit Lisa), bewundert die „starken Frauen“, heißen sie nun Senta, Tatjana oder Violetta, fügt Metatheaterszenen ein oder konzipiert das Ganze wie jetzt bei seiner Grazer Pique Dame als unaufdringliches Metatheater. – So treibt er ganz konsequent der Puschkin Erzählung (auf ihr basiert das Libretto), wenn nur eben möglich, alles Romantische und Phantastische aus, verstärkt das groteske Element der Vorlage. Der Protagonist Hermann wird von Anfang an als ein gestörter Penner und Säufer hingestellt, vom Wahn der Spielsucht und von der Hoffnung auf das plötzliche große Geld infiziert. Gleich zur Ouvertüre darf er eine Flasche Wodka auf der Parkbank leeren, und die angebliche Leidenschaft für die kleine Lisa ist auch nur ein Wahn. Wahn nichts als grotesker Wahn ist auch die Friedhofsszene, in der er glaubt, die tote Gräfin habe ihm das Geheimnis der Glück bringenden Spielkarten aufgedeckt. Als Wahn erweist sich auch das vermeintliche Spielerglück im Finale, eine grotesk übersteigerte Sauforgie unter Bürgern und Soldaten, eine ferne Referenz an Auerbachs Keller. Nichts als Wahn war schon der armen und so naiven Lisa Traum von der großen Liebe. Pique Dame ist für Konwitschny eine Erzählung von Wahn und Desillusionierung und von herunter gekommener Romantik, ein Stück, das er in Theater auf dem Theater übersetzt. Eine Konzeption, die ein Ensemble durchweg herausragender Sänger in beeindruckender Weise zu realisieren weiß. – Wir sahen die Aufführung am 10. Februar 2012, die 11. Vorstellung. Die Premiere war am 6. November 2011.