Von starken Frauen und Jammerlappen: Hector Berlioz, Les Troyens. Teil II: Les Troyens à Carthage im Badischen Staatstheater Karlsruhe

„Von Helden“ verkündet vollmundig das hauseigene Theatermagazin, so laute in den Jahren 2011/2012 das Spielzeitmotto in Karlsruhe. Eine seltsam befremdliche Wahl, bei der es wohl darauf ankommt, „Helden“, wenn es denn je welche gab, vom Sockel zu stürzen. Bei den Opernhelden, heißen sie nun Ruggiero, Lohengrin, Siegmund, der Herzog von Mantua oder ich weiß nicht wie, ist das eine leichte Aufgabe, zumal diese Helden bei ihrem Auszug zu neuen Taten über Leichen  (vorzugsweise Frauenleichen) zu gehen pflegen. Der Karlsruher Held Äneas, den sich Berlioz als sein eigener Librettist frei nach Vergils römischem Nationalepos, der Äneis,  modelliert hat, macht da keine Ausnahme.

Wie Énée ganz in der Tradition der klassischen französischen Tragödie zwischen Sendungsbewusstsein und imperialer Mission auf der eine Seite und Liebe und Leidenschaft auf der anderen Seite schwankt (im deutschen heißt das wohl: wie er zwischen ‚Pflicht und Neigung‘ schwankt) und schließlich die Flucht ergreift, da ist er schon ein sehr trauriger Held, um nicht zu sagen: ein erbärmlicher Jammerlappen. Und die Karlsruher Inszenierung tut auch alles, um Vergils mythischen Heroen, den von Jupiter auserwählten  Begründer des Imperium Romanum auf Kleinformat zu reduzieren. Aus dem „trojanischen Helden“ ist ein in die Jahre gekommener Bootsflüchtling geworden. Seine stark abgerissene Mannschaft hat wohl auf ihrer Odyssee von Troja nach Karthago die gesamte Ausrüstung verloren: ein trister Haufen, nur noch mit Holzknüppeln bewaffnet, bittet Königin Dido, die es sich gerade in ihrem Sommerhaus mit ihrer Schwester Anna bequem gemacht hat, um Hilfe. Wie dieser Äneas mit seiner herunter gekommenen Truppe die angeblich so gefährlichen Numidier vernichten kann, das bleibt ein Opernrätsel. Doch ein Held, ein Frauenheld ist dieser Äneas, dieser französische Énée noch immer, wenngleich die nach des Gatten Tod frustrierte und melancholische Dido ihm geradezu von selber zufällt. Auch musikalisch hat Held Äneas nicht allzu viel zu  bieten. Nicht nur dass der Komponist, wie schon die Zeitgenossen bemerkten, seinem Énée  „eine undankbare Rolle“ zugewiesen  und ihn zur Mediokrität verdammt hat: „Le pius Eneas reste d’une médiocrité parfaite, et tout l’intérêt est habilement concentré sur les grandes figures de Cassandre et de Didon“ (zitiert nach dem Programmheft S. 32). In Karlsruhe hat der Sänger des Énée noch dazu  das Pech, auf einen neuen Star in der Rolle der Dido zu treffen. Gegen die mächtig auftrumpfende junge amerikanische Sopranistin Heidi Melton steht unser Heldentenor auf verlorenem Posten und schlägt sich doch wacker durch. Kein Zweifel indes, dass die die Karlsruher Trojaner musikalisch und szenisch auf hohem Niveau spielen. Ob Maestro Justin Brown mit seiner Badischen Staatskapelle „le luxe mélodique“, „l’expression passionée“, „l’ardeur intérieure“ immer getroffen hat,  Qualitäten, die Berlioz von seiner Musik gefordert hat, das kann ich nicht beurteilen. Mir jedenfalls hat diese Mischung aus Grand Opéra und Tragédie lyrique, für die Berlioz geradezu emblematisch steht, gefallen. Und das gleiche gilt für die Inszenierung. Mag das große Metatheaterspektakel zu Beginn (Königin Dido spricht anlässlich des karthagischen Nationalfeiertags vom Balkon des Zuschauerraums zu ihrem Volk, das sich im Zuschauerraum vor dem Orchester versammelt hat), mag dieses Spektakulum auch ein bisschen abgegriffen sein und  geradezu als Parodie einer Ansprache der Kanzlerin zu andächtig lauschenden Parteitagsdelegierten  geraten, so gewinnt die Regie in den folgenden Bildern an Subtilität. Immer wieder faszinierend ist es, wie sie den Konflikt, dem Äneas ausgesetzt ist, in Bilder transformiert. Das Gartenpalais der Dido ist auf einer Grabkammer gebaut und während Dido und ihr Held ihre ‚Nacht der Liebe‘ feiern, hören unten im Grab unter Führung Hektors die Geister der gefallenen Trojaner in der Gestalt von graudunklen Lemuren zu und mahnen mit ihrem strengen „‚L’Italie! L’Italie!“ Äneas an seine Mission, drängen zur Abfahrt nach Italien. In diese Grabkammer wird sich nach der Flucht des Äneas Dido zum Sterben zurückziehen (eine Aida ohne Radames) und von dort her die Trojaner verfluchen. Auf den spektakulären Tod auf dem Scheiterhaufen, wie ihn das Libretto will, verzichtet die Regie zu Recht. „Uritur infelix Dido […]“.  Dido verbrennt – nicht im konkreten Sinne. Sie verbrennt an der „Liebe als Passion“. Und unser Held ist schon  auf und davon zu neuen Abenteuern – über ihre Leiche.

Les Troyens in Karlsruhe (wir sahen leider nicht den ersten Teil, die Einnahme von Troja)  sind eine Reise wert. Wir besuchten die Aufführung Les Troyens à Carthage  am 1. Dezember 2011. Die Premiere war am 15. Oktober 2011.