„Amfortas die Wunde…“ – Germania die Wunde
Pubertäre Albträume im Hause Gurnemanz und im Haus für deutsche Geschichte. Stefan Herheim inszeniert Parsifal bei den Bayreuther Festspielen
Zehn Jahre bin ich nicht mehr in Bayreuth gewesen, und in diesen zehn Jahren habe ich anderenorts viel Wagner gehört und gesehen. Guths Tannhäuser in Wien, seinen Tristan in Zürich, seinen Parsifal in Barcelona, Bechtolfs Ring in Wien, Herheims Lohengrin in Berlin, Bieitos Parsifal in Stuttgart: spektakuläre und hochkarätig besetzte Aufführungen, die es alle Male mit Bayreuther Produktionen aufnehmen können. Doch Bayreuth ist und bleibt halt ein ‚Mythos’ und damit lebt sich vortrefflich auf dem ‚Hügel’. Mag auch manche Aufführung in den letzten Jahren (und auch in diesem Jahr) –glaubt man den professionellen Musikkritikern – mehr als ein Flop gewesen sein. Herheims Parsifal hingegen –so munkelt man in den Feuilletons – sei in diesem Festspielsommer ein wahrer Highlight in Bayreuth. So waren denn auch die Erwartungen, als wir, o Wunder, für den Parsifal – und nur für den Parsifal – Karten bekamen, hoch. Und sie wurden nicht enttäuscht. Im Gegenteil unsere Erwartungen wurden noch übertroffen. Zwar ist der gedämpfte Bayreuther Orchesterklang, wenn man ihn so viele Jahre nicht gehört hat, etwas gewöhnungsbedürftig. Und die so langsamen Tempi, dieses ewig Getragene, dieses unendliche Piano, für die sich Maestro Gatti entschieden hatte, versetzen nicht jeden Wagnerianer gleich in Hochstimmung. Ganz anders das Spektakel, das Herheim und sein Team auf die Bühne zaubern. Das ist einfach faszinierend und überwältigend. Wer Herheims Lohengrin oder seine Rusalka oder seinen Rosenkavalier oder seinen Eugen Onegin gesehen hat, der weiß, dass er alles bisher Gesehene vergessen kann, dass alles anders, alles neu, alles spektakulär ist, dass dieser Theatermann mit seiner überbordenden Phantasie, mit seiner profunden Kenntnis des Werkes und der Rezeptionsgeschichte „Neues“ im Sinne von Wagners bekanntem Diktum in Szene zu setzen weiß. Mag beim Bayreuther Parsifal die Musik vielleicht noch an ein „Bühnenweihfestspiel“ erinnern. Auf der Bühne ist nichts davon zu sehen. Hier werden die Traumata und die Lektüreschäden eines mutterlosen, vom tyrannischen Vater unterdrückten Knaben, der sich in die Parsifal Rolle hineinträumt, in Szene gesetzt, eine Rolle, die den Knaben gänzlich überfordert. Gleich die erste Szene signalisiert dies überdeutlich: in einem großbürgerlichen Salon des späten 19. Jahrhunderts wird der Knabe an das Bett eines sterbenden Christus/Anfortas, der sich an ihn klammert, gezerrt, und er flieht entsetzt vor seiner Helfer Rolle. Die Geschichte vom Raub des Speeres, die Vater Gurnemanz einer sich langweilenden Abendgesellschaft aus reichem Bürgertum, beleibten Klerikern und dreisten Corpsstudenten im Salon weitschweifig erzählt, visualisiert sich für den Knaben: der Märchenkönig Amfortas vergewaltigt eine Frau, und der Zauberer Klingsor bricht mit Feuer und Teufelsschweif aus der Wand hervor.
Bei der Erstürmung von Klingsors Palast darf der Knabe mit Pfeil und Bogen mittun. Ja, und im Finale hat er die so sehr vermisste Mama wieder gefunden. Im Schlussbild posieren Papa Gurnemanz, Mutter Kundry und der träumende Knabe als heilige Familie. Leider nicht als heilige, sondern als braune Familie aus unseliger deutscher Zeit. Und damit schließt sich der Kreis. Die Traumata und Albträume, die Phantasien und Wahnbilder des Knaben überlagern und vermischen sich mit den Traumata und Wahnbildern der modernen deutschen Geschichte. Die arrogante wilhelminische Abendgesellschaft in Gurnemanz Wahnfried Haus stürzt sich trunken vom Gral gleich in die Vernichtungsschlacht des ersten Weltkriegs. Nur konsequent in diesem Sinne ist es, dass aus Klingsors Zaubergarten bei Herheim ein Lazarett wird, dass Klingsor selber ein schwuler Nachtclub Direktor oder auch eine Marlene Dietrich Karikatur ist, dass sein zusammenbrechender Palast von SS Schergen in schwarzer Uniform und mit dem Hakenkreuz am Ärmel geschützt wird, dass sich Parsifal mit einer Art Laser Waffe (bei Wagner der „heilige Speer“) den Nazisoldaten widersetzt, dass mit Klingsors Reich das ‚dritte Reich’ mit seinen Symbolen zerbricht und zerfällt. Der Reichsadler mit den Naziinsignien donnert krachend auf die Szene herab. Und im dritten Akt finden wir uns konsequenterweise in einem Trümmerfeld wieder, in dem, o Wunder, noch ein Springbrunnen sprudelt (bei Wagner die „heilige Quelle“), und im zweiten Teil sind wir schließlich in der bundesrepublikanischen Gegenwart angekommen. Im Reichstag ist der deutsche Adler zur verglühenden Euromünze mutiert. Ein vom Leiden gezeichneter Bundeskanzler (bei Wagner ein gewisser Amfortas) hält die Totenrede auf seinen Vorgänger (bei Wagner ein gewisser Titurel) und erklärt unter den wütenden Protesten der Abgeordneten seine Rücktritt – und Rettung, scheinbare Rettung bringt ein weiß gewandeter, langhaariger Guru, zu dem Kaiser Barbarossa (alias der Heilsbringer Parsifal) im ersten Teil des dritten Akts mutiert war – und verschwindet in der Versenkung. Finis Germaniae. Was aber bleibet, ist die heilige (braune?) Familie? War es das? Allgemeine Begeisterung im Publikum, das die Tiefpunkte (oder waren es für manche gar die Höhepunkte?) der deutschen Geschichte und die Mutterkomplexe der deutschen Knaben klaglos hinnimmt und von Wagners „Raffinement im Bündnis von Schönheit und Krankheit“ (Nietzsche) noch immer entzückt ist – und sich in den langen Pausen mit fränkischen Würstchen und französischem Schaumwein verlustiert und nach der Vorstellung in biederen Landgasthöfen von Elsa und Elisabeth und Kundry träumt. Bayreuth ist halt ein Mythos. Wann bekommen wir wohl das nächste Mal Karten? Wir sahen die Vorstellung am 15. August.