Wo weilet ihr so lange?“ – bei Dr. Schnitzler und bei Dr. Freud. Claus Guth inszeniert einen faszinierenden Tannhäuser an der Wiener Staatsoper
Regisseur Guth weiß stets die alten Geschichten neu zu erzählen und neu zu verorten. Nicht immer gelingt ihm dies. Nicht in Salzburg, wo er aus dem Don Giovanni einen moribunden Waldschrat aus dem Salzkammergut machte – und seine Fans mehr als enttäuschte. Anderenorts gelingen ihm grandiose Neudeutungen wie in Zürich mit der Ariadne und dem Tristan, die er in die Kronenhalle bzw. in die Villa Wesendonck verlegt. Auch jetzt in Wien gelingt ihm mit seinem Tannhäuser Großartiges. Wie schon in Zürich so nutzt Guth auch hier den genius loci, wenn er den ersten Akt vor dem Entree eines Stundenhotels der Luxusklasse, den zweiten im Foyer der Staatsoper und den dritten in einer psychiatrischen Klinik spielen lässt. Dass die Klinik das Otto Wagner-Spital, das Etablissement das Hotel Orient nachstellen, in dem „sich Beamte aus den Ministerien mit ihren Sekretärinnen schnell ein Zimmer mieten, bevor sie in die S-Bahn steigen und wieder in ihr bürgerliches Leben eintauchen“, diese Verweise verstehen die Zugereisten allerdings nur über das Programmheft. Doch die Inszenierung ist weit davon entfernt, „die Fortsetzung des Programmhefts mit anderen Mitteln zu sein“ (Stadelmaier). Ihre Bilder und ihre Grundkonzeption sprechen für sich und lassen sich auch unschwer ohne Sekundärinformationen verstehen. Zeitlicher Rahmen des Wiener Tannhäuser ist ‚die Welt von Gestern’, die späte Habsburgerzeit mit ihren Neurosen, ihrer Verklemmtheit, ihrer Doppelmoral und zugleich ihrer Eleganz und ihrer Kultiviertheit, eben die Welt wie wir sie von Schnitzler und im späten verklärenden Rückblick von Stefan Zweig her kennen. In dieser Welt gibt es keinen Venusberg. Hier kann es allenfalls einen hinter einem Zwischenvorhang verborgenen Lustort, allenfalls verdrängte Lust geben. So ist es nur konsequent, dass Tannhäuser vor dem Zwischenvorhang steht oder hin und wieder mal unruhig auf und ab geht, dass er wohl niemals am Ort der Lust war und dass die Direktorin des Etablissements (bei Wagner eine gewisse Frau Venus) ihn vergeblich drängt hinein zu kommen. Nicht minder konsequent ist, dass die Wartburgsänger, eine leicht angetrunkene Gesellschaft wohl situierter Bürger, die bald „der Liebe reinstes Wesen“ preisen werden, allesamt gerade mit ihren Grisetten aus dem Stundenhotel treten, wenn sie im Finale des ersten Akts den Kollegen Tannhäuser treffen. Konsequent im Sinne der Doppelmoral, des Verdrängens und der Verklemmung wird auch das große Fest im zweiten Akt gestaltet. Die Festgesellschaft hüllt sich in lange schwarze Mäntel und trägt schwarze Masken, so als wolle sie sich wie in Schnitzlers Traumnovelle zu einer geheimen Orgie versammeln. Doch mit den Verweisen auf Freud und Schnitzler, obwohl sie alleine schon eine ganze Inszenierung tragen könnten, lässt Guth es nicht genug sein. Tannhäuser bleibt für ihn trotz der Verlegung in ein Fin de Siècle Ambiente noch immer eine „große romantische Oper“, und da ergeben sich die Verweise auf die romantische Literatur geradezu von selber. Guths Tannhäuser ist ein psychischer Kranker oder um es besser in der Sprache der Literatur zu sagen: er ist eine E.T.A. Hoffmann Figur, die von einem Wahn geschlagen ist, der ‚Realität’ und Imagination ineinander übergehen, die aus ihren Wahnwelten nicht mehr herausfindet, eine gespaltene Persönlichkeit, der Guth ganz konsequent einen Doppelgänger zur Seite stellt, eine Figur, die sich mit ihrem eigenen Spiegelbild konfrontiert sieht. Es sind nicht Lust und Leidenschaft, es ist nicht die „Göttin der Liebe“, die Tannhäuser in Bedrängnis bringen. Es ist ein unheilbarer Wahn, der ihn, wird er von der Liebe berührt, überfällt und der ihn schließlich zerstört. Eine Konzeption, die im zweiten Akt im Geschehen und im Bühnenbild überdeutlich wird. Vor dem Erscheinen der Gäste begegnen sich noch einmal Tannhäuser und Elisabeth: eine pantomimische Liebesszene, die den Wahn ganz konkret ausbrechen lässt: die Kulissen brechen auseinander und statt der vornehmen Festgesellschaft ziehen dunkle Gestalten ein, für Tannhäuser Lemuren aus der Unterwelt, die ihn bedrohen, und aus Elisabeth wird, wenn er sein Lied auf die „Göttin der Liebe“ singt, eine sich lasziv im Sessel rekelnde Venus. Zwar schickt die scheinbar entsetzte Festgesellschaft den Tabubrecher zur Buße nach Rom – ganz wie es Richard Wagner will. Doch Rom ist die Wiener Irrenanstalt des Dr. Otto Wagner, hinter deren vergitterten Fenstern die Irren beim Hofgang den Gesang der frommen Pilger anstimmen, ein Ort, wo Tannhäuser regungslos im Krankenbett legt, wo Elisabeth zur Krankenschwester geworden ist, eine verzweifelte Elisabeth, die angesichts einer aussichtslosen Situation zur tödlichen Dosis Schlaftabletten greift und wo ein heruntergekommener, Selbstmord gefährdeter Wolfram schon mit der Pistole spielt. Und die berühmten Phrasen: „Er kehret nicht zurück“ – „Elisabeth, dürft’ ich Dich nicht geleiten“ – „Wie Todesahnung Dämmrung deckt die Lande“ gewinnen mit einmal eine ganz andere Bedeutung, eine tödliche. Erlösung – mag sie auch das Orchester mit seinem protestantischen Posaunengetöse intonieren, mag sie auch das Choralgeschmetter der „Pilger“ verkünden, gibt es nicht. Sie ist nur ein Wahn. Rettung bietet vielleicht (?)Venus, und auch sie ist nur eine Wahnvorstellung – so zitiert Guth im Finale Konwitschnys Dresdner Tannhäuser.
Eine zu Recht gefeierte Inszenierung, die sicher mit dazu beitragen wird, dass das berühmte Haus am Ring sich endlich vom Opernmuseum zum Haus des modernen Musiktheaters wandelt. Das Publikum, so möchte man der neuen Direktion des Hauses zurufen, möchte nicht nur die Stars der internationalen Opernszene auf der Bühne hören und sehen, möchte sich nicht nur von dem angeblich unnachahmlichen Klang der Wiener Philharmoniker bezaubern lassen. Es erwartet auch intelligente, durchdachte, vieldeutige Inszenierungen, Neuerzählungen der alten bekannten Geschichten, eben ‚Varianten des Mythos’ wie sie Claus Guth mit seinem Tannhäuser bietet. Ein großer Opernabend in Wien. Unnötig zu sagen, dass brillant und auf höchstem Niveau gesungen und musiziert wurde – ganz wie man es von der Wiener Staatsoper erwartet. Wir sahen die Vorstellung am 27. Juni 2010, „die 4. Aufführung in dieser Inszenierung“. Die Premiere war am 16. Juni 2010.