Zum vierten Male präsentiert man in diesem Jahr in Salzburg unter dem so ansprechenden Titel „Neapel Metropole der Erinnerung“ unbekannte oder kaum bekannte Musik aus dem 18. Jahrhundert, die in Neapel oder zumindest im Umkreis der „Scuola napoletana“ entstanden ist: wie immer stehen eine Oper und ein Oratorium, die der Spiritus Rector des Festivals, Riccardo Muti, jeweils selber leitet, ein konzertant aufgeführtes Intermezzo und Solistenkonzerte auf dem Programm. Die Erwartungen sind hoch, und sie werden, sieht man einmal von der schon traditionellen Behäbigkeit der Operninszenierungen ab, nicht enttäuscht. Zu Pfingsten wird in Salzburg, was Musik und Gesang angeht, durchweg Hochkultur geboten und dies im Verhältnis zu den Sommerfestspielen zu relativ moderaten Preisen. In diesem Jahr stand Pietro Metastasios azione sacra: Betulia liberata gleich zweimal auf dem Programm: in der Version als Oratorium mit der Musik von Niccolò Jommelli und als szenisch gestaltete Version mit der Musik von Mozart. Es klingt vielleicht ketzerisch, vielleicht ist es auch nur der naive Eindruck einer Ignorantin und Dilettantin: mir hat Jommellis „Oratorium für vier Solisten, Chor und Orchester“ vom Jahre 1743 weit besser gefallen als die Komposition des jungen Mozart. Vielleicht liege ich mit meiner Einschätzung auch nicht ganz so falsch. Immerhin nennt Riccardo Muti (so im Programmheft vom vergangenen Jahr) Jommelli „einen der genialsten Komponisten der Neapoletanischen Schule“. Zum nicht gerade sehr positiven Eindruck des Mozart Abends trug wohl auch die reichlich dürftige, um nicht zu sagen, ideenlose Inszenierung bei: da rutscht ein in Wolldecken gehüllter Chor, das so genannte Volk, auf den Knien herum, da singt man ständig von der Rampe und ringt die Hände, da stellt man im Bassano Dunkel schon mal lebende Bilder dar, da findet eigentlich gar keine Regie statt, und dies dürfte wohl auch ganz im Sinne des Maestro Muti sein, der angeblich, so munkelt man, das Regietheater nicht schätze. Dem italienischen Produktionsteam muss man allerdings zu Gute halten, dass sich eine azione sacra nicht leicht in Szene setzen läßt. Ist doch Betulia liberata ein hybrides Stück, ein Text, in dem sich theologische Diskurse und eine biblische Variante des Femme fatale Mythos überlagern: Judith verführt und enthauptet den Anführer der Feinde und rettet mit ihrer Tat die defätistischen, schon an der Macht Jahwes zweifelnden Bewohner der Stadt Betulia vor dem Verderben. Und da sich die Sex- und Gewaltorgie nur in der nachträglichen Erzählung der Judith ereignet, die Regie diese nur vorsichtig andeutend visualisiert und vor den Lamentationen und Disputen ziemlich hilflos dasteht, glaubt sich die Feuilletonkritik unter peinlicher Verkennung der immanenten Gattungszwänge einer azione sacra gleich in einem „erzkatholischen Propagandastück“, das die Regie doch bitte „in eine andere Richtung zu lenken“ habe (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 25. Mai). Ja, mit dem Theologischen und erst recht dem Katholischen und dann noch dazu mit Metastasio, der im 18. Jahrhundert eine europäische Berühmtheit war, da hat halt so mancher seine Schwierigkeiten. Wie dem auch sei. Ein etwas matter Auftakt mit Mozart, ein brillantes Finale mit Jommelli. Und als Intermezzo und für mich als heimlicher Höhepunkt der diesjährigen Pfingstfestspiele: Fabio Biondi und sein Orchester Europa Galante spielen Piramo e Tisbe, Intermezzo tragico von Hasse, entstanden in den Jahren 1768/1770, ein Stück, das Biondi mit typischem italienischen Pathos „una gemma compiuta e purissima“ ein perfektes und reines Juwel nennt – und da hat der Maestro zweifellos recht. Und die unverbildete Musikliebhaberin, die schon vor zwei Jahren, als Muti in Salzburg ein Hasse Oratorium aufführte, begeistert war, fragt sich ein weiteres Mal, warum unsere Opernhäuser einen Komponisten wie Johann Adolph Hasse nicht im Programm haben. Piramos und Tisbe böte sich alle Male an – wenn man zwei so herausragende Sängerinnen aufbieten kann, wie es Vivica Genaux und Désirée Rancatore in den Rollen der unglücklich Liebenden sind. – Ansonsten das Übliche in Salzburg: zur Premiere schüttet es vom Himmel, zum Finale läuten die Glocken vom Dom und von Sankt Peter in die Felsenreitschule hinein, bilden den ungewollten Basso continuo in Jommellis Oratorium, der Maestro wie immer perfekt und arrogant, huldvoll lästige Ovationen entgegen nehmend, der Intendant weiter in ricerca del barbiere di Salsburgo, die Präsidentin vorgeblich(?) ein Metastasio Fan („welch toller Text“). Der kleine fettleibige Italiener ist wieder mit seiner Mama da, raucht vor der Vorstellung dicke Zigarren und hustet zwangsläufig in die Arien hinein, die humpelnde alte Dame sucht verzweifelt ihren Platz ( nur dem sich demütig Bückenden erschließt sich die Nummer seines Platzes), die Männerpaare genießen stumm und andachtsvoll, die Ehefrauen und Mätressen führen die neuesten Boutiquemodelle vor, das amerikanische Rentnerpaar sitzt wie immer im Holzfällerlook in der ersten Reihe, die vielen Reichen und die wenigen Schönen – sie werden weniger. Keine Vorstellung ist ausverkauft.
Auch im nächsten Jahr, wenn es zum letzten Male um „Neapel Metropole der Erinnerung“ geht, fahre ich wieder zu Pfingsten nach Salzburg.