Es regnet, es regnet immerfort, Passanten suchen sich vor dem Regen zu schützen, stolpern immer wieder, hasten zu den Metroeingängen. Eine Bar zur Linken, auf derselben Seite eine neuromanische Kirchenfront. Zur Rechten ein Mietshaus, unten ein Laden, oben eine Wohnung mit Balkon, eine Hausfrau mittleren Alters hängt Bettzeug über die Brüstung. All dies sieht der Zuschauer, noch bevor die Ouvertüre erklingt. Seltsam. Rusalka, so steht es zumindest im Programmheft, ist doch ein „lyrisches Märchen in drei Akten“. Das Märchen, es war einmal. Wenn Stefan Herheim den Undine Mythos nach- und neu erzählt, dann ist alles neu, dann entsteht zum Vergnügen und manchmal auch zum Entsetzen des Publikums eine ganz andere, eine unerwartete Variante des Mythos von der liebessüchtigen Wassernixe. Wer Herheims Lohengrin oder seinen Rosenkavalier gesehen hat, der weiß, was ihn erwartet: allemal ein großer Theaterabend. Und auch in Graz wurden in dieser Hinsicht die Erwartungen nicht enttäuscht. Zwar war wohl manch biederer Opernbesucher ob des ungewohnten Spektakels zu Anfang ein bisschen irritiert. Doch die Irritation wich schnell der Faszination, ja der Begeisterung. In Graz spielt Rusalka in einem Kleinbürgerbezirk, nein eher in einem Rotlichtviertel in London. Vielleicht auch in Brüssel oder Paris? Rusalka spielt, so signalisieren uns gleich bei ihrem ersten Auftritt die „Waldnymphen“, die zu Damen vom Gewerbe mutiert sind, in einem Irma La Douce Ambiente. Rusalka selber ist zur kleinen Hure geworden, die von der großen Liebe träumt. Und der Wassermann in seinem billigen verwaschenen Anzug, den er bald mit einem Schlafanzug tauschen wird, ist zum heruntergekommenen Pantoffelhelden, zum Kleinbürger mit verdrängten Sexsehnsüchten geworden. Der Prinz ist ein kleiner Prinz im Matrosenanzug, fast ein Kind, das nicht so recht weiß, was ihm geschieht. Die „fremde Fürstin“ mimt mal den Hausdrachen beim Wassermann, mal die elegante Opernbesucherin in der Loge, mal die Operndiva, mal die Karnevalsprinzessin, mal, so in den Schlussszenen, ein Opfer von Jack the Ripper. Nicht diese Aktualisierungen, so interessant und so unterhaltsam sie auch sind, machen den Clou der Inszenierung aus. Herheim verlagert das Interesse von der Protagonistin hin zur Figur des Wassermanns, macht die erste Nebenfigur zur Hauptperson des Geschehens, setzt die verborgenen Sehnsüchte eines alternden, eines unterdrückten Kleinbürgers in Szene, der seine latenten Wünsche von der Liebe als Passion auf eine Dame vom Gewerbe und deren unerfahrenen Kunden projiziert und für das Scheitern dieser Passion, für das im Rusalka Märchen die „fremde Fürstin“ steht, die ihn beherrschende Frau verantwortlich macht und diese tötet. So wird der Undine Mythos bei Herheim zur Psychostudie der Nebenperson, zur Fallstudie einer kranken Person, die als Mörder endet. Doch bei Herheim sind wir im Theater, nicht in der Psychopraxis des Doktor Freud, und der Psychofall ist für unseren Theatermacher nur der Anlass, im Wortverstande die Puppen tanzen zu lassen und frei nach Bachtin eine groteske Welt zu kreieren. Da werden die Huren zu einer Tanzgruppe aus unförmigen, phallischen Leibern, die den Wassermann bedrängen, da mutieren die Nonnen zu Huren und umgekehrt, da wird die Hexe zur Femme Fatale, da hockt mal Rusalka, mal der Wassermann auf einer natürlich phallischen Plakatsäule, da sinkt die leidende Rusalka als Madonna im Sternenkranz vom Bühnenhimmel herab, da sammeln sich die Bewohner des Viertels (im Libretto die Hofgesellschaft) zu einem wilden Karnevalszug, bei dem der Wassermann den Gott Neptun und der „Prinz“ den Karnevalsprinzen spielen. Da wird das Finale im zweiten Akt zur Opernparodie, wenn Rusalka mit den theatralischen Gesten einer routinierten Operndiva ihr Leiden zur Loge des Prinzen und der Fürstin hinaufschmettert und die Fürstin sich nicht lumpen lässt, auf die Bühne herabkommt und gleich als Tosca mitsingt. Und auch der Wassermann darf im Sinne des totalen Theaters gleich vom Zuschauerraum aus mitsingen, während die Karnevalsgesellschaft Konfetti wirft und Rosen im Publikum verteilt. Im dritten Akt gibt es dann noch eine Carmen Parodie und ein spektakuläres Rheingold Zitat – aus einer uralten Inszenierungen: die Rheintöchter bzw. die Waldnymphen entschwinden schwimmend im Bühnenhimmel. Und im Finale: da ermittelt die Kriminalpolizei, und die Spurensicherung macht sich an die Arbeit: der Wassermann Mörder wird abgeführt, die Hure Rusalka schnappt sich lachend den nächsten jungen Mann: Wassermanns nächtliche Projektionen sind zu Ende. Aus ist der Traum – vom Märchen von der liebessehnsüchtigen Undine.
Gesungen und musiziert wurde wie es dem Niveau eines mittelgroßen Hauses entspricht. Aber bei Herheim ist das alles nicht so wichtig. Mozart, Wagner, Strauss und jetzt auch Dvorák werden bei ihm sowieso zu Soundtracklieferanten. Wir sahen die 9. Vorstellung am 27. Februar 2010. Die Premiere war am 18. Dezember 2009. In Graz zeigt man eine „Koproduktion des Théâtre Royal de La Monnaie, Brüssel, und der Oper Graz“.