In Zürich, in Bechtolfs Don Giovanni, trieben es unser Held und sein Gefährte im Foyer und in der Bar eines Luxushotels. In Salzburg – vor ein paar Jahren – tummelten sich die beiden im Luxusbordell. Jetzt in Wien hat man den Hotelgedanken nicht nur szenisch, sondern auch im Sinne der klassischen Gattungshierarchie zu Ende gedacht. Ort des Geschehens sind Hotelräumlichkeiten: Zimmer, Flure, die Portierloge, der Tanzsaal, die Terrasse und immer wieder der Aufzug und im Finale eine Art größerer Abstellraum, in dem ein vergreister, Blut spuckender Don Giovanni zusammen mit einem Rentner Leporello seine letzten Tage verbringt – mit Kleiderpuppen, die an Zerlina, Anna und Masetto erinnern – und offensichtlich seit Jahrzehnten auf den „steinernen Gast“, den Tod wartet. Ganz wie es nun mal das Libretto verlangt, erscheint dieser endlich: als Buddhafigur taucht er aus der Versenkung empor, provoziert mit seinem Händedruck einen letzten, dieses Mal tödlichen Blutsturz bei Don Giovanni, einen Blutsturz, den dieser auf höchst spektakuläre Weise im gläsernen Aufzug erleidet. Ein Finale, das sich konsequent aus dem einmal gewählten Szenarium ergibt: das Hotel ist ein öffentlicher Ort. Alles Geschehen vollzieht sich vor aller Augen (und damit wird der Zuschauer implizit zum Voyeur: ein fast unbemerkter Metatheater Gag): Don Giovanni ersticht den Commendatore, der noch im Schlafanzug aus dem Aufzug stürzt, vor der Portierloge. Donna Elvira singt ihre zweite große Arie in ihrem Hotelzimmer, und der Zuschauer sieht ihr durch eine Gazewand hindurch dabei zu. Zum berühmten Quartett im ersten Akt drängeln sich die Akteure im Lift (und die Hoteldetektive aus den „Straßen von San Francisco“, die schon beim Tod des Commendatore herumschnüffelten, drängeln sich dazu). Wenn die Regie (Keith Warner) mit der Einheitlichkeit des Ortes, konkret: mit der Wahl des Hotels als alleinigem Ort der Handlung die klassische Poetik zitiert, dann tut sie das nicht minder mit der hierarchischen Gliederung der Figuren: Zerlina, Masetto, Leporello als Personen, die nicht von Stand sind, müssen innerhalb des Hotelszenariums konsequenter Weise zum Dienstpersonal werden: Zerlina zum Zimmermädchen, Masetto zum Hotelboy, Leporello zum Portier. Und da sie alle drei im klassischen Sinne überdies zum Komödienpersonal zählen, werden sie auch entsprechend karikiert, d.h. ihre schon vorgezeichneten komischen Eigenschaften werden noch einmal überzeichnet. Zerlina wird dabei zum vulgären, sexgeilen späten Madel, Masetto zum vertrottelten Hahnrei, Leporello zum die Fäden ziehenden, immer auf seinen Vorteil bedachten, scheinbar unterwürfigen Diener. Die Personen von Stand wie Don Giovanni, Donna Anna, der Commendatore sind im einmal gewählten Szenarium natürlich Hotelgäste und gemäß der Gattungshierarchie ernsthafte Figuren. Karikiert und zur Komödienfigur reduziert wird von den Personen von Stand – und dies entgegen der klassischen Poetik – allein Don Ottavio. Seine schon vom Libretto vorgegebene Schwächlichkeit überzeichnet die Regie noch einmal, wenn sie ihn zum katholischen oder auch anglikanischen Priester macht, im Komödienschema zum lüsternen Priester, der vergeblich einer Dame den Hof macht. All dieses Spielen mit der klassischen Poetik ist geistreich und spritzig gemacht – mit zahlreichen komischen Effekten und zusätzlichen latenten Verweisen auf Kino, Literatur und populäre Klischees. Donna Elvira als verhuschte und doch zielbewusste Dame schleppt bei ihrer Ankunft im Hotel natürlich jede Menge Koffer mit sich herum und sucht unter Kleidern und Dessous hektisch nach einem Bild von Don Giovanni. Und um sich an dem Treulosen zu rächen, übt sie sich bei ihrem zweiten Auftritt schon mal Amazone: konkret als Sportfechterin. Wer will, der mag bei Don Giovannis letztem Male, auch an das Dinner for One denken („The same procedure…?“) oder auch an das Warten auf Godot. In der Priesterfigur des Don Ottavio mag man auch einen augenzwinkernden Verweis auf die Dornenvögel sehen. Don Giovanni (Erwin Schrott) ist in Wien der Macho und Latinlover par excellence – eine enttäuschend eindimensionale Konzeption. Aber vielleicht nur auf den ersten Blick. Wie der Macho und der Latinlover, die sich wie ein Pfau aufspreizen müssen, um ihre Schwäche zu überspielen, so ist auch der Mozart/Da Ponte Don Giovanni, der nur den Diskurs der Galanterie beherrscht und damit schon keinen Erfolg mehr hat, eine letztlich schwache Figur, eine Figur aus der Welt von gestern, die alle ihre Kraft verloren hat. So ist es auch nur ein konsequentes Bild, wenn die Regie ihn am Blutverlust dahinsiechen lässt. Wie dem auch sei. In Wien hat man eine unterhaltsame und zugleich recht feinsinnig-geistreiche Don Giovanni Variante in Szene gesetzt. Gesungen und gespielt wurde – wie das inzwischen im Theater an der Wien schon Tradition ist – auf durchweg hohem Niveau. Gefallen hat mir dieses Mal vor allem Véronique Gens in der Rolle der Elvira: eine Sängerin, die ihren Part nicht nur musikalisch brillant gestaltet, sondern die, wenn sie nur entsprechend geführt wird – und dies ist in Wien der Fall – ein schier unglaubliches komödiantisches Talent zu entfalten weiß. In Wien – wie konnte es anders sein – spielt man natürlich die Wiener Fassung. Das heißt: es gibt kein moralisierendes Finale. Mit Don Giovannis Ende ist auch die Oper zu Ende. Für den armen, so gebeutelten Ottavio, dessen Arie („Il mio tesoro intanto“) in der Wiener Fassung entfällt, hatte die Regie doch noch ein Zückerle bereit: er darf die Arie kurz intonieren und hat dann im Lift zu verschwinden.
Viel Beifall – ein begeistertes Publikum. Schade, dass die Gastronomie am Naschmarkt nicht unbedingt zur Cena einlädt („Mi invitasti a cena…“ – Fehlanzeige). Wir sahen die vierte Vorstellung der Produktion. Die Premiere war am 1. August 2009.