Dieses Mal habe ich von den Intentionen der Regie, geschweige denn von deren Grundkonzeption überhaupt nichts begriffen. Als naiver Theaterbesucher dachte ich bisher, eine Inszenierung sei gleichsam ein aufgeschlagenes Buch, ein Text, den der Zuschauer lesen und deuten sollte, um das Spektakel zu begreifen. Falsch. Ganz falsch. In Stuttgart muss man zuerst das Programmheft lesen, um zu erkennen, was die Welt, die Scheinwelt des Theaters im Innersten zusammenhält. Wer erst nach der Vorstellung ins Programmheft schaut – so halte ich es, um nicht Opfer eines Vor-urteils zu werden – findet dort schon mal Anregungen und Ergänzungen, zusätzliche Informationen, die die eigene Deutung stützen oder ihr widersprechen können. Beim Stuttgarter Teseo bestehen zwischen der Theorie, wie sie sie die Regie im Programmheft darlegt und der Bühnenwirklichkeit, wie das Publikum sie sieht, zwischen den Intentionen der Regie und der Rezeption beim Zuschauer geradezu absurde Kontraste. Auf der Bühne sehen wir in scharfen Schnitten Szenenfolgen aus der Welt des faschistischen Kinos: eine Megäre namens Medea, die ihre Intrigen spinnt, einen Politiker, der über Großbildschirme zu den Massen spricht und zu Hause nicht mit den Weibern zurecht kommt, ein jammerndes Frauchen namens Agilea, das an die Liebe glaubt und das die Megäre von ihren Schwarzhemden quälen lässt, einen etwas unbedarften Jungmann (Titelheld Teseo), der ebenfalls an die Liebe glaubt und der beinahe von seinem eigenen Vater, dem großmäuligen Politiker, umgebracht worden wäre, wenn nicht….. Mit anderen Worten: wir sehen einen Kitschfilm. Sehen sollten wir allerdings eine philosophisch, politisch, moralische Parabel: „Teseo handelt von Integrität in einer korrupten Gesellschaft. Es geht um Teseo und Agilea, zwei Menschen, die […] nicht bereit sind, ihre Werte zu verraten. Und es geht um die Impotenz der Macht gegenüber diesen Menschen. […] Teseo hat John Lockes Staatsentwurf vorweggenommen. Historisch gesehen ist das in großem Stil erst wieder bei der Unterzeichnung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, also zu Händels Zeiten, umgesetzt worden“(Igor Bauersima, Programmheft S. 16 und 20). Wir Zuschauer, sehr geehrter Herr Theatermacher Bauersima, sind so unbedarft, dass wir Ihre hehren Intentionen in Ihrer Inszenierung nicht erkennen konnten. Doch das darf Sie nicht stören. Wenn ich mich recht erinnere, hatte schon ein gewisser Dramatiker, Philosoph und Professor namens Schiller seine Schwierigkeiten damit, seinem Publikum das Theater als moralische Anstalt zur Erziehung des Menschengeschlechts schmackhaft zu machen. Und da sind Sie in guter Gesellschaft. Das Publikum will eben unterhalten werden. Und unterhaltsam, vielleicht gegen Ihre Absichten, war Ihr Teseo alle Male: unterhaltsam als Persiflage auf das faschistische Kino, auf die Filmbranche mit ihren alternden rachsüchtigen Diven, ihren machtlüsternen Diktatoren, ihren edlen Gutmenschhelden und deren nicht minder edlen Gefährtinnen. Ehe ich es vergesse: „Musik ist heilige Kunst“ – und gesungen und musiziert wurde in Ihrem Teseo brillant und – schön. „Musik ist heilige Kunst“ – teutsche Gedankenschwere kann ihr sowieso nichts anhaben. Wir sahen die 12. Vorstellung am 18. Juli 2009. Die Premiere war am 2. Mai 2009.