5. bis 10. Mai 2009
Gleich nach der Rheingold Premiere vom 2. Mai (in Wien kommt halt das Vorspiel nach dem Nachspiel) präsentiert die Staatsoper den Ring als Zyklus. Die Walküre, den Siegfried und die Götterdämmerung hatte ich nach den jeweiligen Premieren im vergangenen Jahr schon gesehen. Jetzt beim Gesamtwerk hat sich der erste Eindruck kaum verändert: ein Zögern zwischen Begeisterung und Skepsis, wobei allerdings jetzt die Begeisterung überwiegt. Keine Frage: in Wien wird grandios musiziert und in fast allen Rollen brillant gesungen und gespielt. Wenn man noch dazu das Märchenhafte am Ring liebt, auf das die Regie den Hauptakzent setzt, dann bleiben keine Wünsche offen. Wer sich hingegen von Wagner und seinen Deutern Welterklärungsmodelle erhofft, der kommt in Wien nicht auf seine Kosten. Mir persönlich ist allemal die „holde Kunst“ ganz ohne ideologische Verbrämungen am liebsten. Und in diesem Sinne hat mir der Wiener Ring gefallen. Für den, der es etwas genauer wissen möchte, was mir denn an Welser-Mösts und Bechtolfs Wagner Spektakel gefallen hat (oder auch missfallen hat), für den schreibe ich – mit der einen oder anderen Ergänzung – noch einmal auf, was ich mir im vergangenen Jahr zu den einzelnen Aufführungen notiert habe (Vgl. Zerlina von Faninal, „Die schöne Musik! […] Da muß ma weinen“. Vom Spektakel der Inszenierungen. Blätter aus Zerlinas Opern-Tagebuch (2005-2008). München – Zürich – Salzburg –Stuttgart –Wien – und die Provinz. München 2008, Martin Meidenbauer-Verlag).
Die Walküre oder Sieglindes fatale Liebe als Passion: ein Spiel der Leidenschaften und der Sehnsüchte
In Wien ist halt alles anders. Da beginnt man den neuen Ring gleich mit der Walküre und spielt Das Rheingold nach der Götterdämmerung. In Wien ist halt alles anders. Da gibt’s kein Kriegsszenarium und kein Weißes Haus und keine hohen Militärs, da gibt es keine Umweltkatastrophe und keinen Kampf zwischen Matriarchat und Patriarchat, da gibt es kein romantisches Schicksalsdrama und keinen Traumdiskurs, keine Popkultur und keine amerikanischen Filmsequenzen, kein Bayreuther Festspielhaus als Szenarium und kein Metatheater und schon gar nicht Parodie und Ironie. Hier erzählt man, ganz wie es im Libretto steht und wie es die „sehn-süchtige“ Musik suggeriert, zwei tragisch (oder vielleicht auch nur traurig) ausgehende wilde Liebesgeschichten, zwei inzestuöse Passionen, die nicht ausgelebt werden können. Dass Regisseur Bechtolf sich auf die erotischen Diskurse und deren Symbole versteht und diese in ganz der Musik entsprechende Bilder umzusetzen weiß, dies ist dem Zuschauer, der Bechtolfs Zürcher Mozart-Inszenierungen kennt (und bewundert), nicht neu. Wenn man auf Erotik, Passion und Sinnlichkeit als Grundkonzeption der Inszenierung setzt, dann ist es nur konsequent, dass Sieglinde nicht das verhärmte Frauchen an Macho Hundigs Herd ist, sondern zur passionierten Verführerin wird, die den etwas unbedarften Siegmund schon gleich in den ersten Szenen für sich gewinnt. Und dann versteht sich auch, warum diese Sieglinde zur Ouvertüre den Stamm, in den Wotan das Schwert gestoßen hatte, wie einen Phallus umklammert. In diesem – ganz wie es die Musik verlangt – erotisch aufgeladenem Szenarium muss das Schwertmotiv geradezu eindeutige sexuelle Konnotationen gewinnen, das Schwert, das der brave Siegmund so ohne Mühe herauszieht und im Finale des ersten Akts so jubilierend präsentiert. Selbst die Gestalt der Fricka, die konventionell so gern als frustrierte ältliche Ehefrau gegeben wird, wird bei Bechtolf in Kostüm und Habitus zur Fruchtbarkeitsgöttin und Verführerin. Nur der Figur der Walküre wird erotische Ausstrahlung versagt. Keusche Umarmungen deuten die mögliche inzestuöse Beziehung zu Vater Wotan gerade mal nur an. Alle mit der Walküre assoziierte Erotik wird in ein Nebenmotiv verlagert, in das Pferdemotiv. Im dritten Akt platziert die Regie gleich ein ganzes Rudel (Plastik)Pferde in den Bühnenhintergrund. Natürlich sind die Pferdefiguren im platten Realsinn die Pferde der von Wotan fort gescheuchten Walküren. Die symbolischen Konnotationen des Motivs sind indes überdeutlich: das Pferd ist von alters her das Symbol der Wollust, das Sinnbild der Luxuria. Latente Wollust ist (oder wird) das Attribut der Walküre. Und wenn dann zum „Feuerzauber“ im Finale nicht ein Flämmchen glüht, sondern die Pferdefiguren gleichsam von innen heraus im Feuer aufglühen und die Flammen an allen Begrenzungsmauern emporzüngeln, dann schließt die Walküre nicht nur mit einem großen Spektakel und einem grandiosen technischen Gag, sondern ganz im Sinne der Grundkonzeption der Inszenierung mit einem erotisch aufgeladenem Signal. Das Feuer ist im symbolischen Sinne ähnlich wie das Pferd eines der ältesten (und natürlich auch konventionellsten) Bildsymbole für Leidenschaft und Sinnlichkeit. Und um diese geht es primär in der Wiener Walküre. Ob das angeblich so aufgeschlossene und angeblich so kritische Staatsopernpublikum, das an diesem Abend (wir sahen die dritte Aufführung – in der Premierenbesetzung) nicht zu einem geringen Teil aus japanischen und amerikanischen Touristen bestand, das auch so gesehen hat? Rechts von mir saß ein französisch sprechendes Paar, das sich langweilte. Links von mir eine Dame mittleren Alters, der, so verkündete sie lauthals, schon auf der Schule die Nibelungen so gut gefallen hatten und die jetzt mal sehen wollte, wie „das der Wagner so macht“. Und der junge Mann aus dem Wiener Männerwohnheim, der einstens auf der Galerie sich von Wagner berauschen ließ? Besser nicht daran denken. Sprechen wir lieber von der Inszenierung, der Musik und den Sängern. Natürlich gelingen der Regie auch außerhalb des Erotik-Themas grandiose Szenen. So visualisiert sie z. B. das sonst so gern vernachlässigte Wolfsmotiv. Wölfe (virtuelle Wölfe) verfolgen Siegmund. Oder führen sie ihn auf die Spur Wotans? Wenn Wotan seinen Sohn Siegmund praktisch zum Tode verurteilt, dann trägt eine weiß gekleidete Frau (Erda?) ein Wolfsfell herein und wenn Wotan dieses Fell mit einem Tuch bedeckt, dann breitet er noch vor dessen faktischem Tod über seinen Wölfing das Leichentuch aus. Eigentlich unnötig zu sagen, dass grandios gesungen und musiziert wurde. Einen so jugendlichen und so lyrischen Wotan wie ihn Juha Uusitalo, den man von München her in Wagner Rollen kennt, in Wien verkörpert, dürfte man nicht so leicht wieder finden, einen Wotan, der seinen großen Monolog im zweiten Akt geradezu haucht und der doch bis in jede Silbe hinein verständlich bleibt. Und wie Nina Stemme als Sieglinde in Gesang und Spiel das Sinnlichkeitskonzept der Regie umsetzt, das ist einfach bewundernswert. Schade, dass in der Aufführung innerhalb des Zyklus (am 6. Mai) Nina Stemme kurzfristig absagen musste. Natürlich hatte man in Wien eine bekannte Wagner Sängerin als ‚Ersatz’ bereit. Doch ‚Sinnlichkeit’ war nicht so ganz deren Sache.
„Leuchtende Liebe, lachender Tod!“
Während die Walküre in der zyklischen Aufführung etwas von ihrem Glanz und ihrer Faszination verloren hat, wird der Siegfried, der mir vor einem Jahr (wir sahen damals, Anfang Mai, die zweite Aufführung) noch etwas matt vorkam und der erst im Finale des dritten Aufzugs grandios war, jetzt zum zu Recht umjubelten Höhepunkt des Wiener Rings, wenngleich die beiden ersten Akte sich noch immer recht betulich dahin ziehen. Gleichsam zur Entschädigung wird dann allerdings im dritten Aufzug so brillant gesungen, musiziert und gespielt, ja, dass man im Publikum einfach hingerissen ist.
Wieder stehen Sänger der ersten Kategorie auf der Bühne – ganz wie man es von der Staatsoper in Wien erwarten kann: Stephen Gould als Siegfried, Juha Uusitalo als Wanderer, Nina Stemme in der für sie wohl noch ungewohnten Rolle der Brünnhilde. Beeindruckende, überragende Sängerschauspieler, wie man sie sich nicht besser wünschen kann. Und die Musik? Ein rauschhafter, ein erotisierender Wagner ist das nicht, was da aus dem Orchestergraben klingt. Eher ein zurückhaltender, ein fast sanfter, ein fast leidenschaftsloser Wagner wird von Maestro Welser-Möst präsentiert, eine Interpretation, die vielleicht manche Erwartungen enttäuscht und die doch – im zweiten Teil des dritten Aufzugs in perfekter Harmonie mit der Inszenierung steht. Gemeinsam drängen musikalische und szenische Interpretation alles platt Erotisierende zurück und deuten alle Passion geradezu verschüchtert nur an. Brünnhilde ist kein „wild wogendes Weib“, das mit ihrer mächtigen Leibesfülle und mit ihren schreienden Tönen den armen Siegfried erschreckt, sondern eine ängstlich-schüchterne mädchenhafte Frau, die sich nicht gerade danach sehnt, die Mätresse des jungen Herrn aus bestem Hause zu werden, zu dem die Figur des Siegfried im Finale stilisiert wird. Vielleicht ist die Siegfried – Brünnhilde Szene überhaupt das Glanzstück der Inszenierung. Regisseur Bechtolf versteht sich eben, wie man weiß, auf die erotischen Diskurse und deren szenische Umsetzung. Seine Walküre liegt nicht platt realistisch im „Waffenschmuck“ im Schlaf, sondern sie verbirgt sich – in großer Abendrobe – unter einer Vielzahl von Schleiern. So wird ganz konkret das Erwecken und Erwachen der Schlafenden zu einer Art Entschleierung, zum Symbol der Verwandlung der mitleidsvollen Walküre in die liebende Frau. Und die allmähliche Annäherung des Paares gerät zum vorsichtigen Flirten, zu einem zurückhaltenden Einsetzen der gestischen Signale, eine Reserviertheit, die sich erst in der obligatorischen Umarmung zum Fallen des Vorhangs löst. So brillant und so überzeugend – so ganz anders als man sie von den konventionellen Inszenierungen her kennt – die Brünnhilde Siegfried Szene gestaltet wurde, so betulich wirken dagegen die ersten beiden Aufzüge. Siegfried und Mime hausen endlich nicht mehr, wie das inzwischen bei manchen Theatermachern Brauch geworden ist, als Proleten auf der Müllhalde. Ganz im Gegenteil. In Wien leben und arbeiten sie in einem eleganten Labor, in einer Art Designer-Schmiede und während Siegfried an seinem Schwert hämmert, ohne sich wohl die Hände schmutzig zu machen, kocht ihm Mime ganz realistisch einen Schlangenbrei. Im zweiten Akt gibt es einen richtigen Riesen zu bestaunen und dazu ein Ungeheuer, das Feuer speit, und Alberich und Wotan hocken um ein richtiges Lagerfeuer – wie zwei alte miteinander stets konkurrierende Pfadfinderführer, die sich im finsteren Wald getroffen haben und nochmals über ihre alten Zwistigkeiten schwatzen. Ob hinter dem Wiener Siegfried eine einheitliche Konzeption, eine tragende Idee steht, ich weiß es nicht. Der erste Akt ‚realistisch’, der zweite ein Märchenspiel für Kinder, der dritte Akt Thanatos (Wotan schaufelt Erda aus einem Grab heraus und versinkt darin – nach der für ihn so fatalen Begegnung mit Siegfried) und das Finale Eros? War es vielleicht das? Wie dem auch sei. Herausragend gesungen wird allemal.
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Götterdämmerung als Fantasy Spektakel und Zitatenkonglomerat
Die Wiener Götterdämmerung lässt den Zuschauer zunächst ratlos. Sind die Nornen, die da im düstern Nebel inmitten von verkrüppelten Tännchen herumirren, die Hexen aus dem Macbeth, die anders als bei Shakespeare nicht mehr die Zukunft verkünden, sondern nur noch vom Vergangenen erzählen? Ist die Brünnhilde der ersten Szene eine heidnische Priesterin, die einen toten Siegfried (er liegt – ganz eingehüllt in eine Art Kokon – auf einer Grabplatte) noch einmal ins Leben zaubert, auf dass er ihr seine und ihre Geschichte noch einmal vorspiele? Ein versteckter Hinweis auf die Priesterin Morgaine und Die Nebel von Avalon? Ist Brünnhildes unzugänglicher Felsen vielleicht die Insel Avalon? Ruht im Finale der tote Siegfried auf einem Schiff, weil Brünnhild e/ Morgaine mit ihrem Siegfried/Artus in die Nebel von Avalon entschwinden wird? Oder sind wir vielleicht bei Böcklin und seiner Fahrt zur Toteninsel? Ist der kahlköpfige bleiche Hagen in seiner schwarzen Gewandung ein Mephisto/Gründgens Verschnitt? Oder ist er vielleicht ein Untoter, vielleicht ein Golem, den Alberich sich zur Rache geformt hat? Ein Untoter, dazu verdammt, ewig das gleiche Spiel von Machtgier und Trug, von Mord und Untergang zu spielen? Verweisen die schwarz gekleideten „Mannen“ mit ihren flachen Helmen und den hoch gereckten Lanzen auf einen Mittelalter Kostümfilm, vielleicht auf Szenen aus einer Verfilmung der Nebel von Avalon? Zitiert die Szene Hagen und die „Mannen“ vielleicht einen Bildausschnitt aus Breughels Bethlehemschem Kindermord (der Offizier, der inmitten seiner Leute das mörderische Treiben beobachtet). Versinken Gunter und seine Leute nach dem Mord an Siegfried zusammen mit diesem in der Unterwelt, in Dantes Inferno? Und wird dabei der Trauermarsch zum Einzugmarsch in die Hölle? Bilder über Bilder, die auf Literatur, Film und Malerei verweisen und die doch in all ihrer Zeichenhaftigkeit nie aufdringlich wirken, nur Assoziation evozieren, die nie von der Musik ablenken, einem kaum rauschhaften, eher einem, wenn man das so sagen darf, ‚intellektuellen’ Wagner. In Wien präsentiert man keinen Wagner, der mit seiner „Sinnlichkeit“ „den Geist mürbe und müde macht“. Hier hat Nietzsches böses Diktum: „Wagner wirkt wie ein fortgesetzter Gebrauch von Alkohol“ keine Gültigkeit. In Wien wird unter der Leitung von Maestro Welser-Möst einfach nur schön musiziert und (in fast allen Rollen) schön gesungen. Hier ist Wagner im positiven Sinne „ dieser alte Zauberer“ als den ihn Nietzsche einst abwerten wollte. In Wien wird kaum in der Musik, hier wird in Bildern geschwelgt, auf jeglichen Metatheaterehrgeiz verzichtet und aufgesetzter politischer oder gesellschaftlicher Impetus verschmäht. In Wien erzählen Welser-Möst und Bechtolf den Mythos von Göttern, Heroen und Menschen, von deren Konflikten, deren Untergang und möglicher Wiederkehr als ein Märchen für Erwachsene, die im Märchen die Antimärchenzüge und die intermedialen Verweise erkennen mögen. Ein konventioneller Wagnerabend oder wenn man es ein wenig böswillig sagen will: ein bedächtiger, ein betulicher Wagnerabend, der kein Risiko eingeht, der das Publikum nicht emotional oder gar intellektuell überfordert und der so richtig zur k. und k. Behäbigkeit der Wiener Staatsoper passt.
Und Das Rheingold? Nach all dem Märchen- und Fantasy-Zauber, der am ersten, dem zweiten und dem dritten Tag des „Bühnenfestspiels“ geboten wurde, war zu erwarten, dass der Zauber auch im Rheingold weitergeht. Und so war es auch. Natürlich gibt es – ganz wie im Märchen – richtige Riesen zu bestaunen, die in ihren Gummianzügen wie zu groß gewachsene Michelin-Männchen wirken. Feuergott Loge – in Kostüm und Maske ein reinkarnierter „Highländer“ – ist wohl gerade aus dem gleichnamigen Kultfilm entlaufen. Die beiden kleinen Götter mimen reiche russische ‚Sommergäste’ in Baden Baden, und Wotan mit seiner mächtigen Gestalt, seinem Glatzkopf, seinem weiten schwarzen Mantel könnte leicht den Türsteher einer Nobelbar geben. Göttin Fricka macht auf große Dame, und Freia, “die Gute“, hat wohl schon lange nicht mehr von ihren Jungmacher Wunderäpfeln genascht. Doch seien wir nicht böse oder gar zynisch. Das Rheingold ist halt das Satyrspiel nach der Tragödie und bleibt doch ein Kindermärchen für Erwachsene, so suggeriert es mit ironischem Blinzeln hin zum Publikum die Regie: alles ist doch nur Theater, alles nur ein Spiel. Lassen wir doch den ganzen ideologischen Überbau vom Weltverneiner Schopenhauer bis hin zum Langweiler Brecht und deren Adepten auf dem Müll der Geschichte faulen. Spielen und singen und musizieren wir auf hohem Niveau und appellieren wir mit unserer Inszenierung an das Populärkultur- Gedächtnis der Zuschauer! Und reichen wir dazu gelegentlich ein bildungsbürgerliches Zückerli! Dann sind alle zufrieden und begeistert und werden es auch in den nächsten Dekaden sein. In Wien erfreuen sich die Inszenierungen bekanntlich eines langen Lebens.