26. 04.09 An der Schönheit sterben – im Irgendwo. Death in Venice an der Staatsoper Hamburg

Ein Ansichtskarten Venedig gibt es nicht. Auf der Hamburger Opernbühne gibt es überhaupt kein Venedig, gibt es kein Meer und keinen Lido. Für Venedig stehen zeichenhaft zwei Gondolieri – ohne Gondeln. Den Wind der Adria produzieren zwei gut sichtbar platzierte Windmaschinen. Zuschauer sehet die Signale: wir lehnen alles Reale ab, wir spielen Theater: das Mysterium vom Fluch der Schönheit, wenn Ihr so wollt. Eine Pädophilie-Tragödie, wenn Ihr so wollt. Den Bildungsbürgerkonflikt zwischen apollinischem Maß und dionysischem Rausch, wenn Ihr so wollt. Unser Ort ist ein Irgendwo. Unsere Zeit ist ein Irgendwann. Unser Motto könnte von August von Platen sein: „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, / Ist dem Tode schon anheim gegeben […]“ – eben wie unser Protagonist. Unser Motto könnte von Victor Hugo sein: „Le sublime et le grotesque“ – neben dem Schönen zeigen wir als Kontrastprogramm auch das Hässliche und das Komische: in dem alten Geck, im Hoteldirektor, im Barbier, mit einem Wort: in den Figuren des Widersachers, in den Figurationen des Todesboten. Wir sind keine Dekadenten – wir sind Romantiker mit einem Seitenblick hin auf den Mythos vom klassischen Griechenland mit seinen Göttern und seiner Homoerotik.

Wir sind nach Hamburg gefahren – nicht um die Musik Benjamin Brittens zu hören, nicht um die Operninszenierung des britischen Schauspielregisseurs Ramin Gray zu sehen, nicht um einen schönen und graziösen italienischen jungen Tänzer in der Rolle des Objekts der Begierde zu schauen. Wir sind nach Hamburg gefahren, um Michael Schade in der Titelrolle als Gustav von Aschenbach zu hören und zu sehen. Der Eindruck ist überwältigend. Mit welcher Bühnenpräsens, mit welch makellos schöner Stimme, der man zu keinem Zeitpunkt  die Anstrengung der riesigen Partie anmerkt, der Sänger den Aschenbach singt und spielt und gestaltet, das ist geradezu phänomenal: wie aus dem arroganten Leistungsethiker, der nur eine kurze Auszeit im Süden nehmen will, der seine Erlebnisse zunächst noch literarisieren will, der die Begegnung mit dem „Schönen“ zunächst noch zu intellektualisieren vermag, sie in seinen klassisch- griechischen Bildungskanon  noch einzufügen, sie zu sublimieren versucht, wie aus dem disziplinierten Intellektuellen immer mehr ein rauschhaft Verstörter wird, der sich endlich zu seiner homoerotischen Neigung bekennt, sie in einem Wahntraum auslebt und schließlich daran zerbricht, eine solch vielschichtige Figur musikalisch und schauspielerisch – sagen wir es ruhig – perfekt auf die Bühne zu bringen  und nahezu drei Stunden lang den hohen Ansprüchen der Rolle (und des Publikums, das seinen Thomas Mann kennt und durch  Viscontis Film  und dessen  Mahler Sound vorbelastet ist) gerecht zu werden, das ist eine künstlerische Hochleistung, die man nur bewundern kann. Vor der  absoluten Bühnenpräsens Schades, der die Figur des Aschenbach geradezu idealtypisch verkörpert, verblasst alles andere, werden die Mitspieler zu Nebenpersonen und die Inszenierung zur quantité negligable. Ein großer Opernabend in Hamburg. Wir sahen die „3.Vorstellung seit der Premiere am 22. April 2009“.