Kinderträume und Kindernachtmären. Mitridate, rè di Ponto bei den Münchner Opernfestspielen 2011
Lohnen die Münchner Opernfestspiele noch immer den Besuch? Manchmal kommen mir Zweifel. Vor ein paar Jahren sahen wir dort eine gänzlich heruntergespielte Meistersinger Aufführung. Auch die Ariadne, eine Robert Carsen Inszenierung, die mich vor zwei Jahren bei der Premiere begeisterte, hatte jetzt bei der Wiederaufnahme schon erheblich Patina angesetzt und wirkte wie eine lustlos abgespielte Repertoire Aufführung. Wie mag wohl der Mitridate werden? Der Besetzungszettel verspricht Hochkultur. Dirigat Ivor Bolton. Es singen Stars wie Patricia Petibon in der Rolle der Aspasia, Anna Bonitatibus und der Countertenor Lawrence Zazzo in den Rollen der feindlichen Brüder Sifare und Farnace. Kein Zweifel: der musikalische Part hielt, was er versprach. Musik und Gesang vom Allerfeinsten, eben festspielgemäß. Und die Inszenierung? Einst, im Jahre 2006 beim großen Mozart Jubiläum in Salzburg, hatte Krämer mit seinem Mitridate, den er im Innenhof der Residenz in Szene gesetzt hatte, das Manierierte der opera seria und ihr immanentes doch aus gattungsspezifischen Gründen unterdrücktes Gewaltmotiv herausgestellt. Robert Carsen hat vor ein paar Jahren in Brüssel nahezu ausschließlich auf das Gewaltmotiv als Grundkonzeption gesetzt und das Libretto radikal aktualisiert. Frei nach dem Motto: Saddams letzte Tage im halb zerstörten Führerbunker. Beide Inszenierungen des Mitridate, so unterschiedlich sie auch waren, haben Maßstäbe gesetzt. Und jetzt in München? Da besinnt man sich auf die angebliche Not des jungen Mozart, der – natürlich unter dem Druck des Papas – als gerademal Fünfzehnjähriger eine opera seria komponieren soll und der mit den politischen Intrigen und den Liebeshändeln antiker Heroen und Prinzessinnen so gar nichts anfangen kann – ganz wie unser Regisseur. So lassen denn beide – der eine als holographisches Strichmännchen und der andere mit seinem Kasten voller Comics und Dias aus der Kinder- und frühen Jugendzeit ihrer Phantasie freien Lauf. Da träumt die schöne, in ihrer Hilflosigkeit ach so anrührende Prinzessin davon, dass ein guter Prinz ihr den bösen Prinzen, den sie so sehr bedrängenden Proleten Farnace, vom Halse schaffe und siehe da: der knabenhaft elegante Sifarte ist gerade mit seinem Schifflein gelandet und macht ihr als ein neuer Lohengrin gleich den Hof – und die Regie schiebt gleich ein Strichmännchen Dia mit flatternden Tauben – oder sind es vielleicht Schwäne? – ein.
Der gefürchtete tyrannische Papa, den man doch so gern schon im Orkus glaubte, tritt in den Albträumen als einschüchternder Militär und Zigarre rauchender Mafioso auf, und schnell kriecht auch der zuvor so großmäulige böse Prinz: „Venga pur, minacci e frema […]“ zu Kreuze. Und so geht es mit der Angst der armen Söhnchen und der kleinen Prinzessin vor dem allmächtigen Papa vier Stunden weiter – bis dieser sich endlich selbst aus der Welt schafft und das mächtige Rom der neue Übervater ist, dem die Kinder so gerne trotzen wollen. Zu all dem wird – meist von der Rampe – brillant gesungen, die Personenregie ist unaufdringlich oder kommt nicht vor, die Lichtregie zaubert wunderschöne Projektionen herbei, eben die Nachtmären des Königs, der Prinzessin und der rivalisierenden Brüder. Und damit wir auch alle im Publikum merken, dass es wirklich Nachtmären sind, die uns da geboten werden, darf die Prinzessin auch schon mal im Nachthemd oder im Schlafanzug auftreten, und auch darin sieht sie allerliebst aus.
Ja, und alles wäre gut und schön wie im Wunderland der Märchen, wenn unser Regieteam es mit den Kindercomics und deren Stichmännchen sein Bewenden hätte gelassen. Aber irgendwie mussten sie wohl auch die Gewaltvideos, die sie früher mal angeschaut haben, unterbringen. Und so schütten sie denn im Finale Theaterblut geradezu in Eimern aus. Schade drum. Kindermärchen, kindliche Nachtmären und Pulp Fiction, das passt doch nicht so recht zusammen. Aber vielleicht wollte Theatermacher David Bösch auch an den ewigen romantischen Konflikt zwischen dem Grotesken und dem Sublimen erinnern? Als Bochumer „Hausregisseur“ hat er sicher schon was von Victor Hugo gehört. Doch wer weiß das schon so genau. Wir sahen die Vorstellung am 26. Juli 2011. Die Premiere war am 21. Juli im Prinzregententheater. Ein schöner, ein gefälliger, ein harmloser Opernabend. Das Publikum zieht glücklich und zufrieden davon.