Groteske Hirngespinste im Exzess. Konwitschny ‚karnevalisiert‘ den Freischütz in der Hamburger Staatsoper

„Du willst doch wohl nicht extra nach Hamburg fahren und Dir einen Freischütz antun. Damit hat man uns als Kinder schon im Musikunterricht in der ersten Klasse auf dem Gymnasium gequält. Das halt ich nicht mehr aus“, meinte noch meine Freundin Elisa, die Musikerin, bevor sie  nach Santo Domingo abflog. Ich wollte ihr noch nachrufen:  Verlob Dich nur nicht in „St. Domingo“! Das ging schon bei Kleist schief, und Baudelaires Diktum: „La nature est laide“, das kennst Du Karibik Fan wohl noch. Aber da war sie schon weg – und ich fuhr allein nach Hamburg zur Kultur, nicht wie Elisa zur „hässlichen Natur“ – und wurde nicht enttäuscht, wenngleich das Germanisten Geraune, das Adorno Gesäusel, das marxistische Geschwafel, mit denen eine eifernde Dramaturgie  das Programmheft aufgefüllt hatte, Schlimmes befürchten ließ. Doch wenn’s dann endlich losgeht, dann begreift  man sofort, dass der ganze abgestandene ideologische Kram, der Ballast der Rezeptionsgeschichte, der den Freischütz beschwert,  für einen Theatermann wie Konwitschny nur Spielmaterialien sind, die er auseinander nimmt, neu montiert, nach Belieben zitiert, ironisch verfremdet, zur Komödie und zur Parodie herunterzieht. Das beginnt schon bei der Ouvertüre, die die Musiker im Dunklen beginnen („Achtung liebes Publikum. Gleich kommt eine Geschichte aus den dunklen deutschen Wäldern“). Die Bösen und der Böse kommen an der Seitenbühne mit dem Fahrstuhl herab („Fahrstuhl zum Schafott“?) und zum Tanz einer verblödeten Bauerngesellschaft spielen drei Teufelsgeiger auf: groteske Karnevalsfiguren, die dem Fahrstuhl entsteigen. Und so geht es von Szene zu Szene, und der angeblich  so tief schürfenden „deutschen Nationaloper“ wird  alle Ernsthaftigkeit ausgetrieben. Sie wird gleichsam karikiert und zur Tingeltangel Revue reduziert. Natürlich schaut Agathe als braves Mägdelein, wie sich das gehört, aus dem Fensterchen – der entsprechende Zwischenvorhang fällt rechtzeitig herab – wenn sie ihre Arie singt, und auch die Sterne glitzern, ganz so wie wir das aus den üblichen Inszenierungen kennen. Aber unsere gute Agathe ist eigentlich eine mütterliche Zicke mit koketten Anwandlungen, die die Seelenvolle nur mimt. Den Strauss mit  den angeblich geweihten Rosen, den sie vom „Eremiten“  haben will, wirft ihr ein Herr aus dem Publikum zu: die Anfänger im Hause sind peinlich berührt. Die Theater Erfahrenen ahnen einen Metatheatergag und werden im Finale bestätigt, wenn der Herr  aus dem Publikum auf die Bühne steigt und sich als der „Eremit“ vorstellt, der die Lösung bringt: ein Banker, der Visitenkarten (oder sind es vielleicht Kreditkarten?) verteilt und Champagner auffahren lässt. Und alle trinken mit. Auch der kurz vorher in die „Wolfsschlucht“, sprich: in den Aufzug geworfene Kaspar. Vielleicht ist der Freischütz doch so eine Art Fledermaus Verschnitt avant la lettre? Und die Wolfsschlucht, die Crux für jeden Theatermacher? Für Konwitschny ist das  eine Spielwiese für die Techniker von  der Bühnenmaschinerie, die jetzt  mal so richtig zeigen können, was man so alles mit der Maschinerie eines großen Hauses anstellen kann, und zugleich ist die  Wolfsschlucht des ‚guten Onkels’ Gruselkabinett aus der Kindersendung im Nachmittagsprogramm. Neben der Wolfsschluchtszene ist wohl die Jägerchorszene eine der heikelsten für jede Regie. Auch hier findet Konwitschny eine Lösung, die in ihrer grotesken Überzeichnung als Politik- und Freudsatire kaum zu überbieten sein dürfte: Ein Stoiber oder Honecker Double sagt den unsäglich albernen Text  zum Gaudi des Publikums vor dem Vorhang auf, und während anschließend  aus dem Orchestergraben der  „Jägerchor“ schallt, beschnuppert auf der Bühne ein  als Hund Maskierter eine schlafende Hofgesellschaft  – zwischen den Beinen. Und jault vor Schreck in den „Jägerchor“ hinein. Komik, Parodie, Groteske allerorten. Eine alte Erfahrung bestätigt sich wieder einmal: eine Konwitschny Inszenierung sehen, das heißt scheinbar Bekanntes neu und anders sehen. In Hamburg präsentiert  man  auch noch  mehr als zehn Jahre nach der Premiere einen höchst amüsanten, keineswegs abgespielten Freischütz, und dank eines  überragend aufspielenden Orchesters klang dieser Freischütz, den man schon so viele Male gehört hat, in keinem Augenblick abgedroschen und heruntergedudelt. Wir sahen am 21. November die „41. Vorstellung seit der Premiere am 31. Oktober 1999“.