Nichts von Rittern und Burgfräulein, nichts von Königen und Grafen, nichts von schaurigen Grüften, nichts von düsteren Wäldern und sanften Auen. Von all diesem romantischen Mittelalter Plunder will die Regie nichts wissen. Statt eines Märchens aus fernen Zeiten und fernen Landen setzt sie ein modernes Kammerspiel, ein Psychokammerspiel in den Kostümen von heute in Szene.
Einheitsbühnenbild ist ein den ganzen Bühnenraum einnehmender heller Saal. Am Ende des Saales eine große offene Flügeltür hin zu einem Garten. Zur rechten eine kleine Tür. An der Fensterfront ein Flügel. Auf der rechten Vorderbühne ein Krankenhausbett. Ein Musiksaal, ein Festsaal, ein bis auf ein Bett leer geräumter Krankenhaussaal? Auf dem Bett ein wohl höchst depressiver junger Mann. Ein vom Krieg traumatisierter Offizier? Nein, vom Krieg, so wird es uns die Regie erzählen, ist dieser junge Mann wohl nicht traumatisiert, sondern von einem Psychodrama, das er selbst mitinszeniert hat, in dem er Täter und Opfer zugleich war und in de er eine naive und lebensuntüchtige junge Frau, Euryanthe, seine eigene Braut mit üblen Verdächtigungen in den Wahnsinn getrieben hat. Ein Geschehen, das Adolar, so der Name des jungen Mannes, trotz eines happy ends, eines nur scheinbaren happy ends, nicht ‚verarbeitet‘ hat und das er wohl immerfort neu erfahren muss. Manipuliert wurde Adolar bei seinem Tun von einer zur Schizophrenie neigenden Intrigantin, deren amouröse Avancen er zurückgewiesen hatte und einem wohl sexuell gestörten Rivalen, der sein Trauma als Sadismus exerziert.
In dieser Psychohölle, wie die Regie das Bühnengeschehen begreift, kann es, obwohl Musik und Libretto dies verlangen, kein happy end geben. Zwar enden auch bei Loy die Intrigantin im vollständigen Irrsinn und der Sadist als ihr Mörder. Zwar findet auch bei Loy trotz allen Psychoterrors das junge Paar wieder zusammen. Doch, so suggeriert es die Regie, Euryanthe wird wohl nicht mehr aus ihrem Wahn zurückkehren, und Adolar wird aus seinen Depressionen nicht mehr heraus finden. Zwei unheilbare klinische Fälle.
Eine auf den ersten Blick befremdende Personenkonstellation und ein befremdendes Ambiente. Passt denn das zur „großen heroisch-romantischen Oper“? – so mag mancher im Publikum gefragt haben. Ja, es passt zusammen, und es funktioniert, wenn man das Geschehen auf seine Grundstruktur reduziert. Und dann passt es auch zur Musik, die ähnlich wie schon im Freischütz nur scheinbar von lichten Wäldern und dunklen Schluchten erzählt, sondern Psychogramme psychisch Gestörter in Musik transformiert. Und dies geschieht in der Euryanthe noch weit stärker, weit eindrucksvoller als im Freischütz. Und nicht zuletzt deswegen, weil Euryanthe anders als noch der Freischütz ein durchkomponiertes Werk ist. Wie die Musik im Einzelnen funktioniert, wie sie angelegt ist und wie so manches auf Wagner verweist, darüber gibt Constantin Trinks, der Dirigent der Wiener Euryanthe Produktion, im Programmheft Auskunft. Zitieren wir nur einen zusammenfassenden Satz aus dessen Bemerkungen: „Wir bewegen uns hier ganz deutlich in Richtung des Musikdramas des späten 19. Jahrhunderts, und das Interessante dabei ist, dass wir von vorne und nicht von hinten auf dieses Stück blicken“(S. 42).
Die Euryanthe, wie wir sie in Orchesterklang, Stimmen, Spiel und Szene im Theater an der Wien erlebten, ist ein Ereignis des Musiktheaters. Hier brilliert das ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter Maestro Trinks. Hier brillieren in gleicher Weise in Gesang und Spiel Jacquelyn Wagner in der Titelrolle, Theresa Kronthaler als unglückliche Intrigantin Eglantine, Norman Reinhardt als traumatisierter Adolar und Andrew Foster- Williams als psychisch gestörter Sadist Lysiart. Hier ist die Inszenierung intelligent und subtil und entdeckt ein von den Theatern beiseite geschobenes Stück neu.
Wir besuchten die Vorstellung am 15. Dezember 2018, die zweite Aufführung in dieser Inszenierung. Die Premiere war am 12. Dezember 2018.