Gleich zwei Wiederaufnahmen aus der Konwitschny Schule erlebten wir an den letzten beiden Wochenenden. Ich sage bewusst ‚erleben‘, denn große Opernabende waren in der Tat in Dresden und in Frankfurt zu erleben. Die Semperoper zeigte wieder Konwitschnys spektakulären Tannhäuser, der vor nunmehr über sechzehn Jahren Premiere hatte. Und in Frankfurt stand Vera Nemirovas Tannhäuser Inszenierung vom Jahre 2007 wieder auf dem Programm. Sagen wir es gleich ohne alle Umschweife: gäbe es einen Wettstreit der beiden Inszenierungen, dann gewänne alle Male die Semperoper den ersten Preis. Ginge es um den musikalischen Part, dann gebührte der Frankfurter Wiederaufnahme wohl der erste Preis.
Den Tannhäuser der Semperoper hatte ich vor über fünf Jahren schon einmal gesehen und war damals restlos begeistert: „Ein grandioser Opernabend, an dem es nichts zu bekritteln gibt“ – das hatte ich mir damals notiert. Jetzt bei der Wiederaufnahme muss man leider ein paar Abstriche machen. Natürlich schwelgte die Staatskapelle in Wagners „Klangfarbenpracht“ (Bernd Loebe). Doch die Aufführung litt von Anfang an an einem Handicap: der Sänger der Titelrolle war schon bei seinem ersten Auftritt indisponiert und hielt nur mühsam den ersten Aufzug durch, konnte in den folgenden Akten nur den Tannhäuser mimen, und ein Sänger des Ensemble musste kurzfristig die Gesangsrolle von der Seitenbühne aus übernehmen. Und das machte er nach zögerndem Beginn recht brillant und rettete so die Aufführung.
Doch für all dies Ungemach entschädigt Konwitschnys Inszenierung, die auch nach all den Jahren keine Spur von Patina angesetzt hat und noch immer fasziniert und in der noch immer berückende Einzelheiten zu entdecken sind. Erträumt sich Tannhäuser im ersten Akt ein Orpheus Schicksal? Sind die Gespielinnen der Venus, die Tannhäuser Marionetten zerreißen, Mänaden, die auch ihn bald zerreißen werden? Sind die Wartburgsänger Judenkarikaturen? Wird im Finale des zweiten Aufzugs Goya und sein Zyklus Desasters de la Guerra zitiert und im zweiten Akt vielleicht die Farbenpracht eines Miró? Sind die Pilger im Finale Taliban Fanatiker und Talmudschüler, die Kreuze schwingen? Oder sind die Kreuze, die auch schon die Wartburgsänger mit sich schleppten, nur sinnentleerte Symbole? Ehemalige christliche Symbole, die zu Phallussymbolen geworden sind? Ist alles Religiöse gleich welcher Provenienz doch nur Mummenschanz? Fragen über Fragen, auf die die Regie keine Antwort gibt. Nur eine Antwort weiß sie: Erlösung wird Dir nimmermehr zuteil. Eine Tannhäuser Deutung gegen den Strich, wie man sie von Konwitschny auch nicht anders erwartet hatte. (Zu den Einzelheiten verweise ich auf meine Bemerkungen, die sich im Blog unter der Rubrik Dresden finden).
Und in Frankfurt? Da bleibt die Regie in der Tradition von Konwitschnys Anti-Erlösungsdiskurs und verschärft und karikiert diesen noch dazu. Anders als in Dresden, wo man nur vorsichtig und zurückhaltend aktualisierte und den Märchencharakter des Geschehens leicht ironisierte, setzt man in Frankfurt auf radikale Aktualisierung, Ridikülisierung von Figuren und Geschehen und auf plakative Belehrungen. Vera Nemirova ist nicht nur bei Konwitschny in die Schule gegangen. Ihr hat es auch der gute alte B. B. angetan. So erfahren wir gleich zur Ouvertüre, dass es vom Heiligen zum Profanen, vom frommen Pilgergehabe zum spießigen Sex-Getümmel nur ein Schritt, genauer: nur ein Takt ist. So machen denn die Pilger – im Outfit einer Sozialarbeiter Brigade – in einem zwielichtigen Viertel unter einer Straßenlaterne halt. Und kaum erklingt die glitzernde Venusbergmusik, da lassen die scheinbar so frommen Pilger die Gesangbücher und (fast) alle Hüllen fallen und üben sich in Sexgymnastik. Jetzt haben auch die Schwerhörigen im Publikum, die von der Musik nichts mitbekommen haben, begriffen, dass Gottesliebe und irdische Liebe, vornehm ausgedrückt: dass Erotik und Mystik zwei Seiten derselben Medaille sind. Sinnentleerte Spielformen, die zur Karikatur und zur Groteske einladen. Tannhäuser hat es zum modischen Countrysänger gebracht, der mit der Pastoralassistentin und ihren Kolleginnen wohl einen Betriebsausflug macht, dem dies alles nur lästig ist und der heilfroh ist, dass er bei seiner Countrysänger-Band wieder mitmachen kann. Wolfram drückt zum holden Abendstern einer todessüchtigen Elisabeth die Kehle zu, auf dass sie um so schneller zum Engelchen werde, und der arme Tannhäuser kehrt zu seiner Pfarrerin zurück, die offensichtlich den Beruf gewechselt hat und zur Puffmutter geworden ist.
Eine Tannhäuser Konzeption, die es weder mit der Religion noch mit der Liebe hält. Eine Konzeption, der es nicht an Konsequenz und Stringenz mangelt und die überdies mit einer ganzen Reihe von fragmentarischen Bildzitaten zu glänzen weiß. Den Wettstreit der Countrysänger begleitet Elisabeth mit der Harfe und wird dabei zu einer Mischung aus präraffaelitischer Schönheit und Fra Angelico Engel. Der von seinen Kollegen bedrohte Tannhäuser flüchtet unter den weißen Mantel der Elisabeth: ein ferner Verweis auf das berühmte Madonnenbild eines Zurbarán: die heilige Jungfrau nimmt die Kartäusermönche unter ihren „Schutz und Schirm“, konkret: unter ihren weiten Mantel. Wolfram hält die sterbende Elisabeth wie eine Pietà in seinen Armen. Die Kunsthistoriker werden an diesen und noch an manchen anderen Bildzitaten ihre Freude gehabt haben.
Wir sind auch nicht wegen der Inszenierung, sondern wegen der Besetzung nach Frankfurt gefahren. Lance Ryan in der Titelrolle und Annette Dasch als Elisabeth. Ob die beiden Stars wirklich so brillant waren? Das mögen die Musikkritiker beurteilen. Mir jedenfalls haben sie gefallen.
Wir sahen die Frankfurter Aufführung am 3. November 2013. Die Dresdner am 10. November 2013.