In dem so verstaubt wirkenden Staatstheater, einem Haus, in dem sich ganze Kohorten von greisen Luxusrentnern an Buffet und Musik zu ergötzen pflegen, war man dieses Mal sehr mutig. Nicht nur, dass man anlässlich der alljährlichen Maifestspiele wohl den ganzen Etat ausgeschöpft hat, um gleich vier Stars von den Bayreuther Meistersingern zu engagieren: Michael Volle für die Rolle des Hans Sachs, Günther Groissböck für den Pogner, Johannes- Martin Kränzle für die Rolle des Beckmesser, Daniel Behle als David. Nicht genug damit. Von der Deutschen Oper Berlin holte man sich den jungen Wagner Sänger Thomas Blondelle, der als Stolzing debütierte.
Michael Volle als Hans Sachs ist in dieser Rolle als Sänger und Komödiant, wie wir schon in Salzburg und zuletzt in Bayreuth feststellen konnten, geradezu unübertreffbar. Und das gleiche gilt für Johannes -Martin Kränzle und Daniel Biehle als Beckmesser bzw. als David. Günther Groissbröck konnte sich leider kaum entfalten. Von Kostüm und Maske war er mehr als ‚behindert‘. Ihn hatte die Regie zu einem von Schlaganfällen gezeichneten blinden Tattergreis mit Gehwägelchen gemacht. Einen so dynamischen jungen Stolzing, wie ihn Thomas Blondell in Stimme, Spiel und Bühnenerscheinung bot, sieht und hört man höchst selten. Er ist eben nicht sanft und lyrisch wie Klaus Florian Vogt, den wir zuletzt in Bayreuth in dieser Rolle erlebt haben, sondern ein schon fast baritonaler Stolzing, dem man ohne weiteres auch den Rocksänger abnehmen würde. Mit anderen Worten: in Wiesbaden gab’s ein Sängerfest. Bei diesem brillanten Ensemble, das bei den Maifestspielen auf der Bühne sang und agierte, kann man nur sagen: Besser geht’s nicht.
Nicht genug damit. Auch die Inszenierung bot Herausragendes. Theatermacher Bernd Mottl hat aus dem uns scheinbar so vertrauten Libretto eine böse Satire gemacht. Statt in einem Butzenscheiben Nürnberg sind wir in einem grauen Vorstadtviertel von heute – Stil: Neue Heimat der Fünfzigerjahre. Ein Wohnblock, der als Altenheim fungiert. Den Chorgesang übt man im Hinterzimmer der dazu gehörigen tristen Kneipe „Alt-Nürnberg“. Hans Sachs hat sein Schuhgeschäft längst aufgegeben und hat sein Appartement in der Abteilung Betreutes Wohnen. Im Vergleich mit den übrigen Meistersingern, wenngleich ihn wohl der Ischias plagt, ist er noch sehr gut in Form. Die kleinen Meister sind so senil und größtenteils noch so debil und bei so schwacher Gesundheit sie werden so böse karikiert, dass die Satire in die Parodie umzukippen droht. Die „Lehrbuben“ machen wohl gerade eine Ausbildung als Altenpfleger. Ohne deren tatkräftige Hilfe würden es die greisen Meister wohl kaum bis ins Sitzungszimmer, die Kneipe Alt-Nürnberg, schaffen. Immerhin haben Altenheimbewohner in Plastiktüten ihre alten Meistersinger Trachten mit dabei und können so einen hausinternen Kostümball veranstalten. David hat im Nebenjob die Kneipe übernommen, und Lene unterstützt ihn als Kellnerin.
Dass in diesem Ambiente der blonde Draufgänger Stolzing in seinem Motorradfahrer Look für die etwas biedere Eva der Traummann sein muss, dass sie aus der Chorprobe heraus rennt und ihren Walter so abknutscht, dass dem dabei fast schwindelig wird, das können wir alle im Publikum nachvollziehen.
Alle? Hoffentlich alle. Denn wenn man sich im Saale so umschaut, dann ergeben sich zwischen den lustlosen Greisen auf der Bühne und deren Unverständnis für alles Neue und so manchen tattrigen Herren im Publikum überraschende Parallelen. Zufall? Oder wollte die Regie ihrem so stark in die Jahre gekommenen treuen Publikum den Spiegel, den Zerrspiegel der Satire vorhalten? Mutig wäre das alle Male, vielleicht auch peinlich, wenn wieder einmal jemand mit Kreislaufproblemen vorzeitig den Saal verlassen muss oder ein anderer seinen Hustenanfall nicht mehr unterdrücken kann und ein dritter verzweifelt sich einen Platz am Buffet erkämpft
Von der Satire will die Regie auch im Finale nicht lassen. Zur berüchtigten Schlussrede des Hans Sachs schwenkt man die Fähnchen mit der Reichsflagge. Nein, so ist es nicht. Die Fähnchen und die Mützchen zeigen nicht Schwarz-Weiß-Rot, sondern nur Weiß und Rot, fragmentierte deutsche Fähnchen, die zu Vereinsfahnen von Sportvereinen mutiert sind. Es gibt auch keine Versöhnung zwischen den Generationen. Die Alten, denen der vom Volk so stürmisch gefeierte neue Star eine für sie peinliche Abfuhr erteilt und der sich mit seinem Evchen längst davon gemacht hat, sammeln sich als Fähnlein unter dem Dirigat des gerade noch so verlachten Beckmesser. Die Meistersinger Herrlichkeit ein längst vergangener Traum.
Allgemeine Begeisterung im Publikum. Es wurde ja auch so brillant gesungen, gespielt und musiziert (Beckmesser würde wohl sagen: bitte ein bisschen weniger Gedröhne). Den Spiegel, den die Regie dem Publikum hinhielt, in den wollte keiner schauen.
Wir besuchten die Aufführung am 30. Mai 2019. Die Premiere war am 29. September 2018.