Was haben Strawinskys Opernoratorium und Tschaikowskis lyrische Oper gemeinsam? Auf den ersten Blick: gar nichts. Hier die griechische Tragödie vom unschuldig-schuldigen Ödipus. Dort das Märchen von der blinden Prinzessin, die von ihrer Krankheit geheilt wird und die Liebe findet. Und doch – so zeigt Theatermacherin Lydia Steier – gibt es zwischen den scheinbar sich so fern stehenden Stücken Verklammerungen. Ein vom Fatum vernichteter Ödipus wählt, als er seiner Taten einsichtig wird, freiwillig die Nacht der Blindheit. Die blinde Prinzessin wählt, um den Geliebten zu retten, das Risiko des Lichts.
Die entscheidende Klammer zwischen beiden Stücken ist für die Regisseurin indes das Inzestmotiv. Ein Motiv, das bei Sophokles (und auch bei Strawinskys Librettisten Jean Cocteau) mit zum ‚Kern‘ des Mythos gehört und das beim Märchen Iolanta allenfalls ein latentes Nebenmotiv ist. In der Frankfurter Iolanta rückt die Regie dieses Motiv in das Zentrum des Interesses. Der König, der seine Tochter angeblich von aller Welt fern halten will, will sie in einem Puppenhaus als lebendige Puppe und Sexspielzeug für sich allein behalten. Die blinde Tochter, so will es Theatermacherin Lydia Steier sehen, ist das Objekt der inzestuösen und pädophilen Neigungen ihres Vaters.
Das Spiel ist für diesen aus, als im Finale die sehend gewordene Tochter das Spiel durchschaut. Der Vater erschießt sich in den Armen der Tochter. Der Liebhaber steht verloren abseits. Auch für ihn – so suggeriert es die Regie mit der Abseitsstellung, die sie ihm verordnet hat, ist das Spiel aus.
Aus dem Märchen ist ein Antimärchen geworden. Mehr noch: die Tragödie des Inzests, der Pädophilie und ganz aktuell die Tragödie eines Missbrauchsopfers. Hat die Regie, so könnte man sich fragen, als sie das Märchenspiel um die schöne Prinzessin und deren wundersamer Heilung durch den Arzt aus dem Morgenland in eine Symbiose mit der Ödipus Tragödie zwang und als sie es ‚entromantisierte‘, hat sie da dem Stück Gewalt angetan? Oder hat sie es nur aktualisiert, als sie die im Märchen unterdrückten Motive des Inzests und des Missbrauchsopfers zum ‚Textgenerator‘ machte?
Wie dem auch sei. Mit Oedipus Rex und Iolanta hat die Oper Frankfurt zwei neue Highlights im Programm. Ich weiß nicht, welchem der beiden Stücke ich den Vorzug geben würde. Dort im Ödipus ein Parlament aus den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, in dem sich Bürger und Uniformträger versammelt haben, in dem ein Kreon im Militarylook als Intrigant nach der Macht greift und ein großbürgerlicher Politiker sich als Krimineller entlarvt. Eine Ödipus Variante in präfaschistischer Zeit? Hier in der Iolanta ein nicht minder erschreckendes Beispiel: die scheinbar so heile Welt des Puppenhauses ein Ort des Verbrechens.
Keine Frage. Das ist großes Theater, wie Lydia Steier die beiden Stücke deutet und in Szene setzt. Und wenn dann noch dazu alle Rollen exzellent besetzt sind, wenn man mit Asmik Grigorian in der Rolle der Iolanta einen neuen Star des Musiktheaters bewundern darf und wenn last not least das „Frankfurter Opern- und Museumsorchester“ unter der Leitung von Sebastian Weigle einen gefühlvoll-seligen Tschaikowski und einen nicht minder eingängigen Strawinsky spielen, dann bleiben keine Wünsche offen.
Wir besuchten die Aufführung am 11. November 2018, die fünfte Vorstellung in dieser Inszenierung. Die Premiere war am 28. Oktober 2018.