Die Aktualisierung einer ‚grand opéra‘, die man in Paris bei Kriegenburgs Inszenierung der Huguenottes vermisste, hier in Wien bei Fischers Version von Guillaume Tell findet sie sich geradezu im Übermaß.
Dieser Tell, wie Fischer ihn in Szene setzt, ist kein Freiheitsheld, kein nobler Résistance Kämpfer, sondern ein brutaler Macho und Familientyrann, der, koste es, was es wolle, seine private Fehde mit dem Gouverneur Gesler durchziehen will. Dieser Gesler ist kein Landvogt der Habsburger, sondern der Kommandeur einer hochgerüsteten Eingreiftruppe, die in der Kampfmontur von heute auftritt. Gespielte Zeit ist vielleicht die Zeit des zweiten Weltkriegs. Die eingespielten Videos, die Bomber und Jäger aus den Vierzigerjahren in Aktion zeigen, legen eine solche Assoziation nahe. Ist der Gouverneur Gesler vielleicht ein hoher SS-Offizier?
Seine dunkle Uniform (nein, schwarz ist sie nicht) und sein „Herenmensch“-Auftreten, die brutale Repression jeglichen Aufbegehrens weisen in diese Richtung.
Nicht genug damit. Der Freiheitsrausch, der das Volk nach der Ermordung des Gouverneurs erfasst, kann nicht von Dauer sein. Der neue Gewaltherrscher steht schon bereit: er ist einer der Ihrigen, Walter Fürst, der machtlüsterne Kollaborateur, der den Aufstand des Volkes manipuliert, der selber den Pfarrer ermordet und den Mord den Besatzungstruppen angelastet hat. Als Zeichen seiner Machtübernahme zieht er dem toten Gesler die Uniformjacke aus und streift sie sich selber über. Der ewige Kreislauf von Freiheitsstreben und Unterdrückung, von Résistance und Repression kann von Neuem beginnen.
Und jetzt wird auch die Funktion der Pantomime überdeutlich, die Tell, Gesler und Walter Fürst während der Ouvertüre aufführen: Tell ersticht Gesler in Zeitlupe, Fürst steht scheinbar unbeteiligt daneben und nimmt die Waffe Tells an sich. Das Volk und die Kämpfer, sie sind nur blinde Werkzeuge im Kampf um die Macht.
Man mag eine solche Deutung von Rossinis grand opéra vom Jahre 1829 für überzogen halten und die geradezu brutale Aktualisierung des Werkes ablehnen. Doch konsequent, stringent und überzeugend in ihrer so pessimistischen Grundkonzeption und in ihrer szenischen Umsetzung ist sie alle Male.
Und die Musik? Die berühmte Ouvertüre ist ein bekannter Hit aus den Wunschkonzerten, und die Oper selber ist eine Art Konzentrat der Rossini Kunst. Es findet sich dort wohl alles, was Rossini ausmacht. Belcanto, opera seria, opera buffa, vielleicht auch“vokale Kirchenmusik“ – wie es im Programmheft heißt. Die Musikhistoriker werden all die Facetten und Register, die sich im Guillaume Tell finden, zu benennen und zu beschreiben wissen. Die einfache Opernbesucherin, die zwar den Rossini Tell vor ein paar Jahren schon einmal in der Bayerischen Staatsoper gehört und gesehen hat, kann nur sagen: eine wunderschöne Musik, Rossini vom Allerfeinsten und dass in dieser Aufführung alle Rollen exzellent besetzt waren. Nennen wir nur die vier Protagonisten: Christoph Pohl als Tell, Ante Jerkunica als Gesler, John Osborn als Arnold und Jane Archibald als habsburgische Prinzessin Mathilde.
Ein in Szene, Orchesterklang und Gesang großer Opernabend im Theater an der Wien. Wir besuchten die Aufführung am 18. Oktober. Die Premiere war am 13. Oktober 2018.