Es ist nun nicht so, dass im Innenhof des einstigen erzbischöflichen Palais, im Théâtre de l’Archevêché, keine herausragenden Inszenierungen geboten würden. Im vergangenen Jahr setzte Krzysztof Warlimkowski Händels Oratorium Il Trionfo del Tempo e del Disinganno spektakulär als Gran Teatro del Mundo und zugleich als Kinofilm im Theater in Szene. Ein Jahr zuvor hatte Martin Kusej aus der scheinbar so harmlosen Entführung aus dem Serail eine Tragödie gemacht und dabei alles aufklärerische Geschwafel und Getue von Toleranz und Generosität als Lügenmärchen entlarvt. Für Konstanze und die Ihrigen, die unter die Islamisten geraten waren, gab es kein lieto fine. Ganz im Gegenteil. Sie alle werden von einer enthemmten Soldateska ermordet. Ein lieto fine gab es auch in Händels Ariodante nicht. Theatermacher Jones lässt Ginevra, die in einer schottischen Sektengemeinde von heute mit einer Gehirnwäsche gefoltert wurde, ihre Koffer packen und vor ihrem erbärmlichen Liebhaber Ariodante und ihrem sadistischen Vater fliehen.
Von allem szenischen Ehrgeiz und allen Versuchen einer Neudeutung bekannter Stücke will man beim diesjährigen Don Giovanni nichts wissen. Hier verlässt sich die Regie auf das abgegriffene Schema ‚Theater auf dem Theater‘ und mischt es in den Kostümen und manchmal auch in der schüchternen Personenführung mit Anleihen bei frühen Goya Figuren auf.
Eine reisende Operntruppe versammelt sich vor einer Don Giovanni Aufführung auf dem Spielpodest. Sänger und Schauspieler und Techniker stehen einfach so herum. Die Sänger beginnen noch in Alltagskleidung die ersten Szenen zu improvisieren, ziehen sich in den nächsten Szenen Kostüme aus dem späten 18. Jahrhundert über, ähneln immer mehr den bunt gekleideten ländlichen Figuren in Goyas frühen Werken.
Eine eher simple Regiekonzeption, die mitunter die unfreiwillige Komik streift. Für die Rolle des Don Giovanni hat sich die reisende Operntruppe wohl einen der Jüngsten ausgesucht, einen sportlichen Jungmann, einen pubertären Narziss, dem Galanterie, Erotik, Rebellentum, Provokation, mit anderen Worten: so ziemlich alles, was die Don Giovanni Figur ausmacht, fern liegt und der zusammen mit seinem Kumpel Leporello mal ein bisschen über die Stränge schlagen will. Die eher mütterlich wirkenden Damen, mit denen er es zu tun bekommt, sind ihm alle weit überlegen, und die etwas irritierte Zuschauerin fragt sich, ob dieser Gianni vielleicht einen Mutterkomplex hat und nach seiner Mamma sucht.
Unser Junge fährt auch nicht zur Hölle. Im Finale hat er schon so sehr dem Marzemino zugesprochen, ist er schon so angetrunken, dass er sich die Höllenfahrt nur einbildet. Zumal der Komtur, mag er auch noch so drohend singen, doch eher ein freundlicher Herr ist, wohl ein Kumpan aus fröhlichen Gelagen. Gianni hat ihn auch gar nicht umgebracht. Der Dummkopf von Leporello hat ihm im Gerangel und eher aus Versehen ein Messer in den Rücken gestoßen. Wenn Gianni schon nicht der Teufel holt, so darf unser Junge trotzdem im Finale eine kleine Show abziehen. Zum moralinsauren Schlussgesang darf er als Dressman in Unterhosen posieren. Er ist fürwahr ein hübscher Junge.
Ja, warum sollen Don Giovanni Inszenierungen auch immer so anspruchsvoll sein und sich so entlegene Schauplätze aussuchen wie die Bronx oder den Hamburger Containerhafen, die Habsburgischen Wälder oder ein Motel im Mittleren Westen. Warum soll die Geschichte auch tragisch-traurig ausgehen. In Aix-en-Provence verzichtet man auf allen szenischen Aufwand, begnügt sich mit einem Bühnenpodest, nimmt den Untertitel „dramma giocoso“ im Wortverstande und beschert dem Publikum einen heiteren Abend. Es wurde in allen Rollen schön gesungen und gespielt. Vom Orchester hätte man sich ein bisschen weniger Behäbigkeit gewünscht. Im bischöflichen Innenhof war es auch noch nach Mitternacht sommerlich warm. Kein kalter Mistral störte das Vergnügen. E lucevano le stelle.
Don Giovanni in einer lauen Sommernacht. Nicht unbedingt auf Festspielniveau. Wir sahen die Aufführung am 13. Juli 2017.