Dass Brittens Version der Thomas Mann Novelle die Kultoper der Feinsinnigen ist, dass Death in Venice sich als hohe Messe der Homoerotik und der Pädophilie – im antiken Sinne des Wortes – hören, sehen und genießen lässt, das ist ein Gemeinplatz. Und dass Death in Venice ein bestimmtes Publikum anzieht, das ist nicht minder ein Gemeinplatz.
Ich muss gestehen, dass ich mir jetzt beim Berliner Tod in Venedig inmitten der so überaus stark vertretenen Gemeinde der homophilen Feinsinnigen etwas fremd vorkam, zumal sich nicht jedermann so kultiviert und – im positiven Sinne – so dekadent gab, wie ich das eigentlich erwartete. Gleich neben mir in der ersten Parketreihe outete sich ein junger Mann als Voyeur und wurde nicht müde, seinen Feldstecher auf die Akteure zu richten. Es waren ja in der Tat auch viele schöne junge Männer – der Darsteller des Tadzio war nicht der einzige – auf der Bühne zu bewundern. Und dass dort ein müder bürgerlicher Literat im Zweireiher, der dem ‚Arbeitsethos‘ verfallen ist, angesichts all dieser männlichen Schönheiten und ihres Körperkults seine ‚verdrängten‘ homoerotischen‘ Neigungen entdeckt, diese auslebt und sich vielleicht dem einen oder anderen im Publikum als Identifikationsfigur anbietet, dies versteht auch, wer die Thomas Mann Novelle und den gleichnamigen Visconti Film nicht kennt.
Wie dem auch sei. Sprechen wir lieber von der Kunst und lassen die Publikumsstruktur auf sich beruhen. Tod in Venedig hatten wir zuletzt vor gut zwei Jahren in einer höchst brillanten Willy Decker Inszenierung im Teatro Real in Madrid gesehen. Wie Decker in raschen Bildsequenzen einen vom Alter und von nachlassender Schaffenskraft gezeichneten Literaten hinstellt, einen Aschenbach, der über den Eros die Schönheit entdeckt, sich von allen selbst auferlegten Zwängen befreit und in Rausch und Vernichtung endet, das war einfach faszinierend inszeniert. Und nicht minder beeindruckend waren die impliziten Verweise auf die Kunsthistorie. In seinem Wahn setzt Aschenbach sein ‚ Objekt der Begierde‘ mit Caravaggio Figuren gleich: mit Bacchus und dem Knaben mit dem Früchtekorb. Und ganz konsequent fallen die tödlichen Erdbeeren aus dem Bild heraus, das die Komödianten als Tableau Vivant nachstellen, auf Aschenbach herab.
So subtil wie Willy Decker in Madrid arbeitet Graham Vick in seiner Berliner Inszenierung nicht. Auch auf Verweise auf die Kunstgeschichte verzichtet er – oder ich habe sie nicht bemerkt. Er betont stattdessen das Wechselspiel von Eros und Thanatos und setzt von Anfang an den Hauptakzent auf das Thema des Todes. Als Rückblick, vielleicht als filmische Rückblende, vielleicht als Traum, vielleicht als Vision, – die Regie lässt die Frage offen – erlebt Aschenbach seine eigene Totenfeier und mit ihr seine letzten Tage. Die zur Trauerfeier versammelten Freunde und Verehrer werfen ihre Trauerkleidung von sich und werden zu Mitspielern in dem um Spiel um Eros und Thanatos, das Aschenbach widerfährt.
Eine durchaus einsichtige Regiekonzeption, die sich allerdings bei ihrer szenischen Umsetzung relativ schnell tot läuft und das Grabmal mit seinem monumentalen Aschenbach Portrait und den Grabhügel mit seinen verdorrten Blumen, den die ‚Knaben‘ als Spiel- und Lustwiese nutzen, als Trauerkulisse funktionslos werden lassen. .
Keine Frage, dass die Fin de Siècle Gesellschaft in Bewegung, Kostüm und Maske, dass die Spiele der ‚Knaben‘, dass der Auftritt der Komödianten, die Begegnungen mit dem vielgestaltigen Todesboten, die Einsamkeit, die zunehmende Verzweiflung Aschenbachs, sein Absturz in den Rausch des Homoerotischen handwerklich höchst gekonnt in Szene gesetzt werden. Doch die Faszination, die von Deckers Inszenierung ausgeht, erreicht Graham Vick zu keiner Zeit. Im Gegenteil. Er langweilt eher.
An diesem Abend sind Inszenierung und Ausstattung indes eher zweitrangig. Paul Nilon als Aschenbach und Seth Carico, der sämtliche Todesboten singt und spielt, sind so brillante Sänger und Schauspieler, dominieren so stark die Szene, dass sie alle anderen Mitwirkenden, so exquisit auch alle Nebenrollen besetzt sind, zu Statisten machen und die Inszenierung zur quantité négligeable werden lassen. Dass das Orchester der Deutschen Oper unter der Leitung von Donald Runnicless einen Britten der Extraklasse spielt, besser: zelebriert, das verseht sich von selber.
Ein großer Abend in der Deutschen Oper. Wir sahen die Aufführung am 23. April 207, die „4. Vorstellung seit der Premiere am 19. März 2017“.