Ein „Bühnenweihfestspiel“ im Otto Wagner-Spital. Parsifal an der Wiener Staatsoper

Im großen Saal mit seinen Jugendstil-Ornamenten schlafen die Patienten der Psychiatrie noch (bei Wagner die Gralsritter), die beiden (lesbischen?) Krankenschwestern (bei Wagner die Knappen) schlummern in fester Umarmung, der diensthabende Doktor (bei Wagner Gurnemanz) wacht in seinem Büro und hört über sein Grammophon Wagner (lautlos, den Sound liefert das Orchester aus dem Graben). Heute wird er wohl  seinen Patienten die Parsifal Sage erzählen und diese aus therapeutischen Gründen mit ihnen nachspielen. Zur Probe lässt er schon einmal die Altarkuppel aus der Otto Wagner-Kirche niederfahren. All dies erfährt der Zuschauer schon zur Ouvertüre –  und er darf großes Musiktheater erwarten.

Erwartungen, die nicht enttäuscht werden. Dass alle Rollen brillant besetzt sind (Nina Stemme als Kundry, Christopher Ventris als Parsifal, um nur die beiden Protagonisten zu nennen), dass das „Orchester der Wiener Staatsoper“ unter der Leitung von Semyon Bychkov die Wagner Droge zuzubereiten weiß, das versteht sich von selber. Ich muss allerdings gestehen, dass dieses endlos Feierlich-Getragene, dieses geradezu lustvolle Zelebrieren, ein Musizieren, das den Zuhörer geradezu zur Andacht zwingen soll und das ganz im Sinne des „Meisters“ den Applaus nach dem ersten Akt  ausschließt, mir auf die Dauer ein gewisses Unbehagen bereitet hat.

Vielleicht wollte Alvis Hermanis, der für Regie und Bühnenbild verantwortlich zeichnet, mit seiner Jugendstil-Orgie und mit seiner Verlegung des Geschehens unter die psychisch Gestörten des berühmten Wiener Spitals einen gewissen Gegenpol gegen das so exzessiv ‚Erhabene‘ in der  Musik setzen. Vielleicht wollte er auch Wagners „Kunstreligion“ im Jugendstil visualisieren und dessen säkularisierte Religion mit der Entscheidung für das Spital als Ort des Geschehens zugleich karikieren. Wie dem auch sei. Die Grundkonzeption der Regie ist einsichtig und faszinierend und im Einklang mit der Musik geradezu überwältigend.

Der Regie gelingen immer wieder geradezu grandiose Szenen. Kundry leidet an einem zu Gewalttätigkeit neigenden Wahn, ist von Assistenzärzten und Pflegern kaum zu bändigen und wird in einen Käfig gesteckt. Der arme Amfortas ist nicht am Unterleib verletzt, sondern hat seltsamerweise eine Kopfwunde: ein Rätsel, das sich im zweiten Akt löst. Klingsors Reich ist kein Zauberschloss, sondern der große Saal der Anatomie, in dem er Patienten (oder sind es schon Tote?) mit Elektroschocks und Gehirnoperationen zu retten sucht. Amfortas ist wohl das Opfer einer misslungenen Operation.

Im Nebenberuf betreibt der Pathologe und Gehirnchirurg Klingsor noch eine psychiatrische Praxis. Die hochgradig gestörte Kundry ist seine Patientin und  wird von ihm auf der Freud-Couch therapiert, und die Blumenmädchen, die da in der Leichenhalle wieder lebendig werden, erinnern von Kostüm und Maske alle an Anna Freud.

Anders als der Kollege von der Pathologie hält es der Dr. Gurnemanz  mit den konventionellen Methoden, glaubt an die therapeutische Funktion der Musik und der Kunst  und lässt seine Kranken das große Spektakel „Die Enthüllung des Grals“ aufführen. Zum Spektakel ist die Wiener Kunst- und Literatenszene als Mitspieler geladen: so nehmen sie denn alle am Abendmahl teil,  und – zumindest einige – sind von Maske und Kostüm her nicht schwer zu identifizieren: Klimt und Schiele, Altenburg und Hofmannsthal. Und auch der kleine Postkartenmaler mit dem Schnurrbart ist mit dabei.

Und Parsifal? Gibt es ihn überhaupt? Ist er nicht nur ein Produkt der kranken Phantasie der Irren? Die stets vergebliche Hoffnung auf eine Wunderheilung, auf eine Therapie, die wirklich anschlägt? Oder bringt er den Tod?

Eine Erlösung findet nicht statt  – nicht durch die Medizin, nicht durch die Kunst. Alles ist nur Wahn, Wahnsinn. Ist das die Botschaft der Inszenierung? Eine vielleicht unter den vielen, die Hermanis mit seinem hybriden Wiener Parsifal anbietet.

„Karajan hat gesagt, es gibt 40 großartige Abende ( von den 294 Vorstellungen im Jahr) , 40 sind gut, und über den Rest breitet man den Mantel des Schweigens“ ( Welser-Moest). Wir hatten das Glück, mit der neuen Parsifal Produktion  einen dieser „40 großartigen Abende“ in der Wiener Staatsoper zu erleben.

Wir sahen die Vorstellung am 6. April  2017, die „3. Aufführung in dieser Inszenierung“.