Krieg und Totentanz, Traumdiskurs und postsozialistische Tristesse. Dmitri Tscherniakov inszeniert Alexander Borodin, Fürst Igor an der Nationale Opera Amsterdam

Plakat der Oper Amsterdam zur Oper Prinz Igor von Alexander Borodin

Fürst Igor, uraufgeführt im Jahre 1890, hatte ich noch nie gehört – geschweige denn auf der Bühne gesehen. Allenfalls an die Ballettmusik, an die berühmten Polowetzer Tänze, ein Highlight in den Wunschkonzerten, hatte ich eine schwache Erinnerung.

Umso größer waren die Erwartungen an die Amsterdamer Aufführung, und – sagen wir es gleich – sie wurden nicht enttäuscht. Es mag ja sein, dass die Musik – vor allem in den Romanzen und Arien der Sopranistinnen – auf Tschaikowski verweist. Es mag auch sein, dass Borodin Volksweisen und Kirchenmusik zitiert. Manches mag auch an Rimsky- Korssakhoff erinnern – vielleicht an Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesh. Doch ich bin kein Musikhistoriker und maße mir kein Urteil an. Sagen wir einfach: die Musik ist eingängig und gefällig, vermag den Zuhörer zu faszinieren.

Zu diesem Eindruck tragen nicht zuletzt auch die großen russischen Stimmen bei: der Bariton Ildar Abdrazakov in der Rolle des Protagonisten, der Bassist Dmitri Uljanov, der gleich zwei Rollen übernimmt: die des gewalttätigen Intriganten und die des generösen Anführers der Feinde.

Wie Gesang und Orchesterklang ist auch die Inszenierung ein Ereignis – ja, wenn man den  Tscherniakov  Stil mag: dieses Nebeneinander und diese Überlagerung von Traumdiskurs und Totentanz, von Gewaltexzessen und postsozialistischer Tristesse. Vor zwei Jahren in Barcelona bei seiner Inszenierung der Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesh war dieser Tscherniakov Stl schon mehr als deutlich erkennbar. Und auch jetzt in Amsterdam bleibt die Regie auf dem einmal eingeschlagenen Weg.

Wie schon in der Legende  verzichtet Tscherniakov auch bei Fürst Igor auf alle Mittelalter Klischees und verlegt die Handlung in eine unbestimmte Gegenwart – vielleicht in die Zeit des „großen vaterländischen Krieges“? Fürst Igor, besser: General Igor versammelt seine Truppen, will, blind gegenüber allen warnenden Vorzeichen, gegen einen übermächtigen Feind, der Rußland verhehrt, ziehen und wird vernichtend  geschlagen. Eine Gelegenheit für die Regie, Videos von verstörten, verwundeten und gefallenen Soldaten einzuspielen. Auch Fürst Igor liegt verwundet – oder vielleicht auch tot? – auf dem Schlachtfeld.

Und jetzt im zweiten Teil des ersten Akts schlägt die Szene um. Das Schlachtfeld wird zum roten ( zum blutgefärbten?) Blumenmeer. Fürst Igor steht inmitten des Blumenmeers. Ein Untoter? Ein Träumer? Ein Moribunder, dem sich  im finalen  Fieberwahn noch einmal eine paradiesische Wunschwelt zeigt?  „Im Traum ist alles möglich und wahrscheinlich“. Es erscheinen ihm die Geliebte seines Sohnes, der Sohn selber, den er doch als toten Soldaten in den  Armen gehalten hatte, die geliebte Frau, der gegnerische Anführer, der ihm Freiheit und Frieden anbietet und die Erfüllung erotischer Sehnsüchte, der ihm das irdische Paradies und Arkadien verspricht: aus dem Blumenmeer entsteigt zwar nicht gleich Aphrodite, doch junge Paare erscheinen ihm, die für ihn – und er ist mitten unter ihnen – tanzen: die berühmten Polowetzer Tänze.

Die Blumenszene, wohl angeregt von Wiktor Wasnezows Gemälde: „Nach der Schlacht des Igor…“  ist    Höhepunkt und stärkstes und  beeindruckenstes Bild der Inszenierung. Und dies sowohl  durch ihre dramaturgische Platzierung   als auch durch ihre Ambivalenz. Die Szene steht in der Mitte zwischen dem zuvor  gezeigten  Grauen des Krieges und dem Toben einer brutalen und  Wodka seligen Soldateska, das den zweiten Akt bestimmt. Ambivalent in ihrer Bedeutung Ist die Blumenszene schließlich, weil sie trotz aller Traumsignale den Zuschauer   über den Zustand des Fürsten im Zweifel läßt.

Nach der Pause, im zweiten und dritten Akt, hat die Inszenierung viel von ihrem Schwung verloren. Der Hyperrealismus, mit dem  die Exzesse der betrunkenen, brutalen Soldaten, die trotz des  nahen Feindes Revolution und Revolte spielen, in Szene gesetzt werden, wirkt auf den Zuschauer schnell ermüdend und langweilig.

Im Schlussakt sind wir dann endgültig bei der postsozialistischen Tristesse angekommen: im zerstörten Palast des Fürsten drängt sich das Lumpenproletariat um die Feuerstellen. Und wieder überlagert, besser: bricht der Traumdiskurs  das scheinbar ‚Reale‘. Kommt Igor ‚wirklich‘ aus der Gefangenschaft zurück? Oder ist seine Rückkehr der Fiebertraum eines Moribunden und der Hoffnungstraum der Proleten? Die Regie lässt die Frage offen.

Kein Zweifel. Ein großer Opernabend wurde  in Amsterdam geboten. Wer den Hyperrealismus auf der Opernbühne mag, der kam auf seine Kosten. Wer es lieber mit dem Traumdiskurs hält – zu diesen zähle ich mich – auch der konnte zufrieden sein. Und wer Tscherniakovs hybriden Inszenierungsstil mag, einen Stil, bei dem sich verschiedene Konzeptionen überlagern, auf dass Neues entstehe, der erlebt in der Tat eine Sternstunde der Musiktheaterregie.

Wir sahen die Premiere am 7. Februar2017.

Bildanachweis:

Das Foto ist das offizielle Plakat der Nationale Oper Amsterdam zur Oper Prins Igor von Alexander Borodin