Dadaisten Happening im Círculo de Bellas Artes. Christoph Marthaler inszeniert Les Contes d’Hoffmann an der Oper Stuttgart

Intelligent, beziehungsreich, witzig, von edler Langeweile angekränkelt – eben ein typischer Marthaler. So die gängigen Erwartungen.

Ganz so langweilig wie befürchtet wird es nun nicht. Es zieht sich allenfalls ein bisschen, und die Gags wiederholen sich. Ansonsten: großes Theater. Die Regie gibt sich intermedial und hat für Madrid-Freunde und für Anhänger der Surrealismus- und Dadaismus-Szene ein Rate- und Wiedererkennungsspiel ersonnen. Ein Who is Who, das ist der schwierige Teil, und ein Wo-sind- wir-denn, das ist der einfache Teil. Wer in Madrid über die Gran Via oder die Calle de Alcalá in Richtung des Museumsviertels spaziert, der findet gleich neben der spanischen Zentralbank einen Palacio, der sich kaum von den anderen Palacios der Umgebung abhebt und der doch eine Institution in Madrid ist: der Círculo de Bellas Artes. Ein Restaurant mit Terrasse zur Straße hin und im Inneren ein Museum, eine Kunstakademie, ein  Theater, Vortragssäle, Zeichensäle, Salons, ein Treffpunkt für Literaten und Künstler und solche, die sich dafür halten.

Anna Viebrock, die für Bühnenbild und Kostüme verantwortlich zeichnet, greift  all diese Teilbereiche auf, vermengt sie miteinander und schafft ein Einheitsbühnenbild, einen idealisierten und konzentrierten Círculo de Bellas Artes. Hier wird getanzt und gefeiert, hier setzen sich die Künstler selber in Szene, hier posieren die Modelle für die Aktzeichner, hier wird geplaudert und getrunken, posiert und integriert, hier erzählt Hoffmann seine Geschichten.

Und jetzt sind wir schon beim Who is Who. Wer ist denn dieser Hoffmann? Vielleicht ein Maler (er trägt einen weißen Kittel), vielleicht ein Besucher von heute, ein der Kleidung nach zu urteilen ziemlich herunter gekommener Typ. Oder ist er, der inmitten der vielen Künstler und Literaten, die alle wie Wiedergänger einer längst vergangenen Szene, des Surrealismus und des Dadaismus, aussehen, ist er, der mit seinen Geschichten gleich Mittelpunkt der Gesellschaft sein wird, ein Wiedergänger des André Breton, der Leitfigur der Surrealisten? Und seine Muse wäre Nadja, die Traumfrau und Ikone der Surrealisten? Oder ist vielleicht Antonia mit ihrem fülligen roten Haar, das fast ihr Gesicht verdeckt, die Muse und zugleich die bürgerliche Frau, die Léona Delcourt, die sich hinter der surrealistischen Kultfigur Nadja verbirgt? Ist Lindorf, der die grausamen Spiele und den Psychoterror mit Hoffmann veranstaltet, ein Wiedergänger von Antonin Artaud, dem ‚Erfinder‘ des Théâtre de la Cruauté, Artaud, der radikale und psychisch kranke Literat, der sich mit Breton zerstritten hatte? Das Ratespiel lässt sich unschwer fortsetzen. An Spielmaterial fehlt es nicht. Zitieren die Nebenfiguren nicht auch Figuren der Kunstgeschichte? Ist Schlemihl vielleicht ein Grosz- oder vielleicht auch ein Magritte-Verschnitt? Verweist Spalanzani  mit seinen skurrilen Maschinen vielleicht auf Max Ernst? Hat sich unter die Besucher und Freunde Hoffmanns nicht auch Dalí gemischt, und könnten die so grotesk gekleideten Besucher nicht so manchem surrealistischen Bild entsprungen sein? Wer mag die Rätsel lösen?

All die Künstler und Besucher im Círculo de Bellas Artes veranstalten gleich im ersten Akt ein wildes Happening, in dem die Kellner mit ihren Tabletts und Gläsern akrobatische Kunststücke vorführen und immer wieder übereinander stolpern, in dem die jungen Damen swingen – und die Aktzeichner ungerührt ihrer Arbeit nachgehen. Im vierten Akt, dem Giulietta Akt, da geht es, wie zu erwarten, wieder hoch her. Da spielen wir Theater auf dem Theater: Krimi, Orgie und Märchentheater vor Zuschauern, die sich brav im Hintergrund halten oder sich  auch schon mal indigniert  davon stehlen.

Kein Zweifel. Mit seinen Contes d’Hoffmann hat Marthaler grandioses und zugleich unterhaltsames surrealistisches Theater in Szene gesetzt, ein mitunter geradezu überdrehtes Theater, das nur im Antonia Akt zur Ruhe kommt. Hier hält sich die Regie weitgehend zurück und lässt einfach nur singen, wunderschön singen, kitschig und süß, rührend und sentimental. Und das machen Mandy Fredrich als Antonia (für mich der Gesangsstar des Abends) und Marc Laho als Hoffmann höchst brillant: „Une chanson d’amour s’envole, triste et folle“. Offenfachs Zuckermusik – eingerahmt von Surrealisten und Dadaisten.

Schön war’s. Und bei nächster Gelegenheit gehe ich noch einmal hin. Aber vorher schaue ich mir Bilder der Surrealisten an und besuche noch einmal  den Círculo de Bellas Artes. Frei nach dem Motto: Erhöhung des Genusses auf dem Umweg über die Erkenntnis.

Wir sahen die Aufführung am 3. April 2016, die dritte Vorstellung. Die Premiere war am 19. März 2016. Der Stuttgarter Hoffmann ist eine „Koproduktion mit dem Teatro Real Madrid“.