Hier singen Primadonna und seconda donna, primo uomo und secondo uomo gleichsam um die Wette. Hier in Karlsruhe singen und agieren in diesem Jahr Barocksänger der ersten Garnitur. Hier wird ein Festival der Stimmen angeboten, wie man es in dieser Zusammensetzung höchst selten hört. Max Emanuel Cencic in der Titelrolle des Arminio, Valer Sabadus als Teseo, Vince Yi als secondo uomo in der Rolle des Sigismondo im Arminio. Und die Damen stehen hinter den Counter kaum zurück. Yetzabel Arias Fernández als gleich von zwei Countern umschwärmte Primadonna im Teseo. Layla Claire als Primadonna im Arminio in der Rolle der liebenden und leidenden Tusnelda, die fest zum Ehemann und ‚vaterländischen Helden‘ Arminio steht.
Welche Arien soll man zitieren? Die nur vom Cembalo begleitete Auftrittsarie des Teseo, die Valer Sabadus im Pianissimo singt oder die „Schlummerarie“ der Agilea aus dem vierten Akt oder die bravourösen Rachearien der Medea? Oder die melancholische „Gefängnisarie“, die Cencic als das Lied vom Tode gestaltet. Oder die Bravourarie mit Oboenbegleitung „Quella fiamma“, wie sie der Soprancounter Vince Yi einem geradezu atemlos lauschenden Publikum vorträgt? So, denkt man, muss es wohl zu Händels Lebzeiten geklungen haben – diese Kombination, dieses Ineinander-Übergehen von virtuosem Gesang und nicht minder virtuosem Soloinstrument. Und man ahnt, warum in jener Zeit die Opernstars wie heutige Popstars gehandelt und behandelt wurden.
Bei diesem gleichsam unendlichen Reigen von Arien jeglicher Art, bei diesen – sagen wir es in aller Einfachheit: wunderschönen Stimmen, die die Zuhörer geradezu verzaubern, bei dieser Dominanz der Gesangstars, wie wir sie jetzt in Karlsruhe erlebten, hat es die Regie nicht leicht, wird die Inszenierung letztlich zur quantité négligeable. Und dies, obgleich Daniel Pfluger im Teseo und Max Emanuel Cencic (in Personalunion Protagonist und Regisseur) im Arminio über eine durchaus schlüssige Grundkonzeption verfügen. Pfluger begreift Teseo als Zauberoper, Variante des Medea Mythos und als latent tragisch angelegte Dreiecksgeschichte, die, gäbe es nicht das obligatorische lieto fine, tragisch/traurig ausgehen müsste. Doch zugleich lässt er der Imagination des Zuschauers alle Freiheit, das Stück auch als Märchen aus fernen Zeiten oder auch als ‚Theater auf dem Theater‘ zu begreifen, als Theater, das die Zauberin Medea inszeniert.
Wie sehr bei Händel die Gesangstars auf Kosten der Inszenierung im Vordergrund stehen, dies wurde beim Arminio ungewollt und unglücklicherweise besonders deutlich. Cencic hatte Arminio als politische Parabel und Exemplum der „Desastres de la guerra“ begriffen und das Geschehen in die Zeit der Napoleonischen Kriege und der deutschen „Freiheitskriege“ verlegt. Doch nach einem schweren Unfall im Bereich der Bühnentechnik, der eigentlich den Abbruch der Vorstellung verlangt hätte, war eine szenische Aufführung nicht mehr möglich, und man entschloss sich zu einer konzertanten, genauer: halbszenischen Aufführung in Kostümen. So wurde – pathetisch gesagt – das Unglück des einen zu Glück der anderen. Ohne von der Szene abgelenkt zu werden, genoss ein aufgeschlossenes und dankbares Publikum all die Virtuosität und all die Wechselbäder der Affekte, die Barockmusik zu bieten weiß.
Und doch war mir, so muss ich gestehen, nicht ganz wohl dabei. Da dringen im ersten Akt mitten in eine Arie hinein plötzlich Schmerzensschreie aus der Unterbühne. Man hält die Schreie für Fiktion, für einen Gag der Regie, will, ähnlich wie die Akteure auf der Bühne, zunächst nicht begreifen, dass die Fiktion Wirklichkeit ist.
Wenn die Wirklichkeit die Fiktion zerstört, dann ist der Theaterabend, dann ist das Fest der Illusionen, der Zauberei und der Künste zu Ende. Ob es eine weise Entscheidung war, nach einer Pause von einer Stunde weiter zu machen? (‚The show must go on‘), ich weiß es nicht.
Wir sahen die Arminio Vorstellung am 21. Februar 2016. Die Premiere war am 13. Februar 2016. Wir sahen die Wiederaufnahme des Teseo am 20. Februar 2016