Nein, wir sind nicht in Sparta, nicht in Troia, nicht in einem erträumten Hellas. Wir sind im Berlin der Zwanzigerjahre. Und eine von abgetakelten, müden Militärs, von denen noch dazu die Hälfte im Rollstuhl sitzt, frustrierte Helena träumt von der großen Liebe. Oder sagen wir gleich: sie träumt von handfestem Sex mit einem jungen Mann.
Gatte Menelaos und sein Bruder Agamemnon haben wohl einen mondänen Nachtclub aufgemacht, einen Club, der sich auf Männerballett in knappen Turnertrikots oder wahlweise in bayerischen Lederhosen kapriziert hat, in Lederhosen, die den halben Hintern der schmucken Knaben frei lassen. Im Club amüsiert sich eine bunt gemischte groteske Gesellschaft, die wohl den Grosz Karikaturen entstiegen ist. Manager des Clubs ist ein den Freuden des Lebens nicht abgeneigter katholischer Priester, dessen Leibesfülle schon ahnen lässt, dass ihm die Sünde der Gula (Fresssucht) nicht fremd ist. Pfarrer Kalchas verschmäht auch nicht die Kupplerrolle (gegen ein paar Zärtlichkeiten am Unterleib) und ist Lena gern zu Diensten, wenn es gilt, einem Cowboy (im Libretto der Hirte Paris, dem Venus die schönste Frau der Welt versprochen hat) Zutritt zu ihr zu verschaffen. Und da ist er auch schon, der Süße.
Wir im Publikum fragen uns, wie es dem schmächtigen Kerlchen Paris wohl gelingen wird, Lena für sich zu gewinnen, die „schöne Helena“ (alias Nicole Chevalier), die so grandios singt und spielt und tanzt, die von der Operndiva bis zur Chansonsängerin, die von der femme fatale über das schnurrende Kätzchen bis hin zur auftrumpfenden, den gehörten Gatten um den Finger wickelnden Ehefrau alle Rollen mit gleicher Bravour zu spielen weiß. Helena lässt sie alle nach ihre Pfeife tanzen: die schmucken Boys, die trägen Krieger, das Paris Männchen. Und wenn sie sich im Finale mit dem als Raffael Kardinal verkleideten Paris auf nach Kythera macht, dann bleibt dem armen Menelaos nur ein Jacques Brel Zitat: „Ne me quitte pas! Ne me quitte pas!“. Und der süße Paris wird es dem Menelaos bald nachsprechen und sich trösten, wenn er seine eigentliche sexuelle Orientierung entdeckt und sich dann nach den Bubis im Nachtclub sehnen „Je suis gai (gay)“.
„Operette ist Rausch“ – so heißt es bei Karl Kraus. Eine Bemerkung, die sich Theatermacher Barrie Kosky zu Eigen gemacht hat. Ein Gag jagt den anderen. Ein sich immer schneller drehendes Karussell aus Musik, Tanz, Couplets, Groteske, Parodie, Witz und Ironie, eben ein Rausch, der das Publikum kaum zu Atem kommen lässt. Und natürlich funktioniert das Ganze nur, weil ein grandioses, absolut spielfreudiges Ensemble auf der Bühne steht, ein Ensemble, das Mut zur Selbstironie und Selbstparodie, zu irren Kostümen und Masken hat, das über die Passarelle tobt und rennt, singt und tanzt. Ein Ensemble, in dem Helena (in der Person der Nicole Chevalier) alle anderen Mitwirkenden, mögen sie auch noch so bravourös sein, einfach an die Wand spielt. Dem kleinen Paris, so schön er auch singt und so rührend zu flirten er sich bemüht, lässt sie dabei kaum eine Chance. Und wenn er in der Verführungsszene in Unterhosen, roten Socken und Sockenhaltern auf der Couch herumspringen muss, dann wird der Arme als Karikatur des Latin Lover geradezu vorgeführt.
Überhaupt die Zitate, die Zitatenmaschine, die die Regie ohne Unterlass bedient. Nicht nur in Figuren und in Szene, auch in der Musik regiert die Maschine. Da erklingt, wenn es scheinbar ernst wird, das drohende Schicksalsmotiv aus Beethovens Fünfter grotesk verzerrt aus dem Grammophon. Wenn Pfarrer Kalchas für seine Orakel Donner braucht, kommt ihm Das Rheingold zu Hilfe. Wenn Lena mal so eben einen Auftritt als Nachtclub Sängerin hinlegt, dann natürlich mit Edith Piaf Ohrwürmern. Doch vergessen wir nicht, La belle Hélène ist von Offenbach komponiert. Doch so schwungvoll und so operettenselig es da auch aus dem Graben tönt, die Inszenierung schlägt einfach die Musik tot. „Zu viel! Zu viel!“. Wie dem auch sei. Spaß haben wir alle gehabt. Die da auf der Bühne und wir im Saale.
Ein großer Abend in der Komischen Oper – ja, wenn man das Karnevaleske und das Homoerotische, zwei Leitmotive des Regisseurs Barrie Kosky, mag. Ich mag sie.
Wir sahen die Aufführung am 15. Februar 2015. Die Premiere war am 11. Oktober 2014