La Bohème in Zürich. Hoffmanns Erzählungen in Berlin. Ohrwurm auf Ohrwurm. Hält man das denn aus? So unendliche Sentimentalität, so viel Herz und Schmerz. Ja, das hält man nicht nur aus. Das genießt man. Das macht süchtig. Da lässt man sich von all der Süße treiben, einlullen. Ertrinken, Versinken – wenn so stupend gesungen, musiziert und gespielt, so grandios inszeniert wird wie jetzt in den beiden Häusern. Mag es in Zürich mit der etwas abgegriffenen Konzeption vom Theater auf dem Theater noch relativ konventionell zugehen, so zieht in Berlin Barrie Kosky alle Register des ‚Regietheaters‘, eines Regietheaters im besten Sinne des Wortes. Ein Theater, das mit seiner überbordenden Phantasie und der Fülle seiner Einfälle und Verweise verblüfft und fasziniert.
Die Regie nimmt den Titel Hoffmanns Erzählungen im Wortverstande, stellt in der Person des Uwe Schönbeck den Erzähler Hoffmann als betagten Literaten, passionierten Mozart Verehrer und Trunkenbold auf die Szene. Und ganz aus der Imagination dieses dem Alkohol Delirium schon recht nahe gekommenen Erzählers – er sitzt zu Beginn inmitten von hunderten leerer Flaschen – entwickelt sich das Bühnengeschehen. In der Phantasie des alten Hoffmann werden seine jugendlichen Doppelgänger lebendig, die ewig düpierten Protagonisten: der von seiner eigenen Vorstellungswelt getäuschte junge Mann, der sich in einen Automaten verliebt, der frustrierte Liebhaber einer schwindsüchtigen jungen Sängerin, der naive ‚teutsche Jüngling‘, der einer Kurtisane verfällt. Der alte Hoffmann steht daneben, will die Katastrophen, in die sein Alter Ego hinein rennt, verhindern und kann doch nichts ändern. Die Phantasiegestalten und die groteske Welt, in der sich diese bewegen, verselbständigen sich gleichsam. Der Erzähler Hoffmann ist Zuschauer im Theater seiner imaginierten Welten, seiner grotesken Welt, in der gleich zu Anfang die Choristen als Männerballett ihren Auftritt haben, Hoffmanns Alter Ego aus den Röcken eines Choristen herauskriecht, wo Olympia die Frau ohne Unterleib im Cabaret mimt, wo im Antonia Akt Hoffmann III, der Doppelgänger des Doppelgängers, nur eine Phantasiegestalt der todkranken Antonia ist. Gleichsam als Teil ihrer selbst kriecht er aus ihrer langen Schleppe heraus. Eine Welt, in der Antonias Mutter als Teufelsgeigerin mit einer ganzen Truppe von schwarz gekleideten Geigerinnen erscheint und zusammen mit dem Docteur Miracle die Tochter gleichsam mit Musik erschlägt, sie zu Tode geigt. So reiht sich denn Gag an Gag bis hin zum Finale, wo der Erzähler Hoffmann sich in Antonias Sarg legt und die Muse in der Gestalt des jungen Mozart ihn mit Don Giovannis Verführungsgeste „Là ci darem la mano“ in eine andere Welt locken will.
Überhaupt Mozart. Mozart ist allgegenwärtig in dieser Inszenierung. Nicht nur in Gestalt der Muse, nicht nur, dass die Handlung sich der Fiktion nach, ganz wie es das Libretto will, während einer Aufführung des Don Giovanni ereignet. Die Regie nimmt zu den drei dramatisierten Erzählungen noch eine vierte hinzu, die berühmte Don Juan Novelle aus den Fantasiestücken in Callots Manier und macht diese zum Ausgangspunkt der Inszenierung. Nicht mit Offenbach, mit Mozart beginnen (und so werden sie auch enden) Les Contes d’Hoffmann. Die ersten Takte der Don Giovanni Ouvertüre wecken den „reisenden Enthusiasten“, den Erzähler der Juan Novelle, aus „dem sanften Schlaf“. Und gleiches widerfährt dem Erzähler Hoffmann. Und er wird immer wieder aus der Don Juan Novelle zitieren, „versunken in die poetische Welt“, „in eine Art von Somnabulism“, und dieses Fantasiestück, diese Traumerzählung von der Begegnung mit Donna Anna, wird sich mit den anderen phantastischen Erzählungen, in die sich der trunkene Erzähler hinein steigert, überlagern. Mit anderen Worten: Theatermacher Barrie Kosky, dem die Feuilletonkritik gern nachsagt, er habe vor allem ein Händchen für Musical Inszenierungen, macht aus den so populären Hoffmanns Erzählungen, ohne dabei auf Komik und Groteske, Unterhaltung und Spaß für das Publikum zu verzichten, anspruchsvolles literarisches Theater. Les Contes d’Hoffmann werden ihm dabei zu einem hybriden Stück, in dem sich unterschiedliche Texte überlagern, in dem – ganz aus Hoffmans phantastischer Welt gedacht – die Figur des Protagonisten sich in Doppelgängern auflöst und zugleich verselbständigt, eine Oper, in der sich die Musik Mozarts und Offenbachs begegnen, in der ganz im Sinne Hoffmanns und seiner Mozart Leidenschaft Ouvertüre und Finale als Hommage an „die Oper aller Opern“ gestaltet werden.
Les Contes d’Hoffmann ist ähnlich wie der Don Giovanni in der vorigen Saison ein Highlight in den Produktionen der Komischen Oper. Dieses Haus, dem solange der Mief ‚längst vergangner Zeiten‘ anhaftete, hat Barrie Kosky zu einem grandiosen Musiktheater gemacht.
Wir sahen die Aufführung am 27. November 2015. Die Premiere war am 2. Oktober 2015.