Der Don Juan Mythos hält alles aus: Tragödie, Komödie, Puppenspiel, Karnevalsposse, Parodie. Man kann das Geschehen ganz traditionell in einem andalusischen Stadtpalais im späten 18. Jahrhundert ansiedeln und in den Kostümen jener Zeit auftreten. Man kann die Handlung in die Bronx, in einen Containerbahnhof, in die Vorstandsetage einer Großbank, in die habsburgischen Wälder, ins Foyer eines Hilton Hotels, in ein Motel im Mittleren Westen verlegen. Letztlich kann man den Don Giovanni überall spielen lassen. Vom Rokoko bis zum Trash ist alles möglich und wahrscheinlich. Und das gleiche gilt für die Figur des Don Giovanni: spanischer Grande, moribunder Greis, drogensüchtiger Popsänger, impotenter Verbalerotiker, schwuler Macho. Alles ist möglich, alles ist wahrscheinlich, wenn man nur den „Kern“ des Mythos, die tragende Grundstruktur, nicht zerstört und wenn man die einmal gewählte Variante konsequent, stringent und überzeugend in Szene zu setzen weiß. So meinte ich bisher – im Hinblick auf den „Kern“. Doch dem ist nicht so. Auch wenn man den Kern des Mythos zerschlägt, funktioniert das Ganze immer noch – wie es jetzt beim Don Giovanni in der Komischen Oper zu erleben ist.
Hier hat sich Theatermacher Herbert Fritsch für die Variante Kasperle- und Marionettentheater entschieden, dem Mythos jeglichen metaphysischen und gesellschaftlichen Bezug ausgetrieben und nicht minder jegliche erotische Komponente gestrichen und geradezu lustvoll den Kern des Mythos zerschlagen, im Wortverstande zerdeppert. Und damit auch im Publikum nicht der geringste Zweifel über die mythoklastische Regiekonzeption aufkommen soll, zerdeppert gleich zu Beginn auf der leeren, bis zu den Brandmauern offenen Bühne eine lustige Karnevalsgesellschaft, die auf spanische Folklore macht, unter Gejohle und Gekreische Tassen und Teller. Mag auch der Kern zerdeppert sein, tot zu kriegen ist der Mythos offensichtlich nicht. Er funktioniert auch als großes Kasperletheater und Karnevalskomödie, als grandios in Szene gesetztes absolut ‚antirealistisches‘ Theater – ein Theater, das ohne Requisiten und ohne Bühnenbild auskommt (es genügen ein paar schwarz-weiße Gaze Vorhänge), ein Theater, das ganz aus der Personenregie und von der Spielfreude des Ensemble lebt.
Don Giovanni (in der Person des überragenden Sängerschauspielers Günter Papendell), wie ihn die Regie auf die Bühne stellt, hat nichts von einem Erotomanen oder gar Rebellen. Er ist eine Kasperle- und Harlekinfigur und tritt in Kostüm und Maske und in seinen Bewegungen entsprechend auf. Strohblonde lange Perücke, grell weiß geschminktes Gesicht, knallig rote Lippen. Der Degen, den er bei sich trägt, nutzt er nicht als Waffe, sondern als Phallussymbol, mit dem er die Damen erschreckt. Leporello ist eine Sancho Pansa Figur, Donna Anna eine lange Bohnenstange, der ein zwergenhafter Don Ottavio im gelben Pierrot Outfit kaum bis zum Busen reicht und der beim berühmten Rondo der Donna Anna sich ängstlich wie ein Hündchen an deren Kleid fest klammert. Donna Elvira erscheint in Kostüm und Maske einer Flamenco Tänzerin. Bei Leporellos Registerarie ist sie nicht betroffen. Nein, sie bekommt Schreikrämpfe vor Lachen. Der Komtur ist offensichtlich kurzsichtig oder gar blind. Er weiß gar nicht, wohin und gegen wen er sich mit seinem Degen wenden soll und schlägt krampfhaft auf einen Degen ein, den ihm Leporello hinhält. Masetto ist ein ausgedienter feister Torero und Zerlina in ihrem weißen altspanischen Hochzeitskleid? Vielleicht eine dem Kloster entlaufene Nonne? Groteske Leiber, groteske Figuren sie allesamt, die sich gezielt hölzern bewegen oder die wie immer wieder Don Giovanni herumtänzeln und Luftsprünge machen. Nichts und niemanden nimmt die Regie ernst – und streicht konsequent das moralisierende Sextett im Finale. Alles ist nur eine Posse, eine höchst kunstvoll angelegte Posse, bei der Commedia dell’arte- Fragmente, Buffa, Puppenspiel, Bruchstücke des Mythos einfach durcheinander gewirbelt werden, zum Spielmaterial für die Don Giovanni Posse werden.
Ja, und die Musik? Keine Sorge, liebe Mozartianer. An diesem Abend wurde nicht nur großartiges, exzellentes Theater geboten. Gesungen und musiziert wurde auf ähnlich hohem Niveau. Selbst die inzwischen so obsolete, um nicht zu sagen, ärgerliche Tradition des einstigen Felsenstein Hauses, italienische Oper in deutscher Sprache zu singen, war an diesem Abend erträglich. Sie trug – vielleicht ungewollt – noch zur Heiterkeit bei. Wenn das Ottavio Männlein eben nicht singt: „Dalla sua pace dipende la mia“, sondern schmachtet „Nur ihrem Frieden weih ich mein Leben“ und sich noch dazu – so die Regieanweisung – von dunklem Drange bedrängt, das Gemächte halten muss, dann fügt sich die scheinbar so noble Arie in Sprache und Gestik konsequent in die Karnevalsposse ein.
Ist der Don Giovanni denn nicht „die Oper aller Opern“? Sicherlich – in der romantischen Tradition. Doch auch wenn man sich wie jetzt in der Komischen Oper der Last der Traditionen bzw. der Rezeptionsgeschichte entledigt und einfach lustvoll zum Vergnügen der Handelnden und der Zuschauenden Theater spielt, auch dann verliert der Don Giovanni nichts. Im Gegenteil: er gewinnt nur.
Ein großer Abend in der Komischen Oper. Wir sahen die Vorstellung am 11. April 2015, die 8. Aufführung seit der Premiere am 30. November 2014.