Im Palais Garnier ist die Zeit stehen geblieben. Diese Inszenierung der Entführung aus dem Serail mit ihrem überladenen märchenhaften Orientdekor, dieses Schwelgen in der Orientmode des französischen 19. Jahrhunderts, könnte noch aus der Belle Époque stammen. Man glaubt es kaum: diese so verstaubt wirkende Inszenierung ist eine „Nouvelle Production“ der Opéra National de Paris. Doch seien wir nicht so kritisch. Es muss ja nicht immer das deutsche ‚Regietheater‘ sein, das aus der Entführung aus dem Serail eine Entführung aus Neukölln oder ein subtiles Kammerspiel um Liebesverwirrungen und Todesängste zu machen weiß.
Lassen wir uns auf die Sehnsüchte und Wünsche, auf die Orientprojektionen französischer Künstler und Bürger des 19. Jahrhunderts ein und genießen wir ein Remake der Orientmode aus vergangener Zeit. Zur Linken der prächtige Palast mit seinen Treppenaufgängen und Säulenhallen. Zur Rechten das Frauenhaus, der Serail. Vor dem Serail Musiker mit türkischen Instrumenten. Am Strand zwei kräftige, nein besser: aufgeschwemmte Eunuchen, mit Hellebarden bewehrt. Der fesche junge Europäer im Tropenanzug, der da aus dem Ruderboot steigt, kann über diese Pracht und diesen Luxus nur staunen. Der kleine Pedrillo, wenn er sich nicht gerade mit dem Obereunuchen (einem gewissen Osmin) herumbalgt, macht immer wieder Fotos für sein Poesiealbum. Dem Bassa Selim steht (dank der subtilen Bühnentechnik) ein richtiges Schiff für seine Lustfahrten zur Verfügung und damit es ihm nicht an Unterhaltung fehlt, dürfen auch gleich zwei Bauchtänzerinnen ihre Kunstfertigkeiten zeigen. Und dies nicht nur zu seiner Rückkehr in den Palast, sondern auch zu Konstanzes Marterarie. Eine lange Arie, für die der Bassa gleich noch drei Musiker aus dem Orchestergraben engagiert und die ihn trotz der “geläufigen Gurgel“ der schmächtigen kleinen Konstanze langweilt. Und so geht es halt weiter. Keine Kosten, keine Mühen, kein Aufwand hindern den Bühnenbildner daran, eine orientalische Märchenwelt auf die Bühne zaubern und dabei kein Klischee auszulassen. Hin und wieder muss es wohl selbst der Regie ein bisschen zu viel des Guten gewesen zu sein. Dann sucht sie den Bühnenzauber durch Metatheater Gags ironisch zu brechen. Dann darf schon mal die füllige Haremswächterin die Musiker beschimpfen. Und zur Ouvertüre wird die Vorgeschichte der Entführung: der Überfall auf die Reisegruppe der Konstanze, die auf Kamelen einen Ausflug in die Wüste macht, als Stummfilm Ausschnitt gezeigt. Orientmode à la Hollywood als Vorspiel. „Ja, warum ist die kleine Konstanze denn nicht bei dem reichen und mächtigen Mann im Orient geblieben? – Ja, das Madame verstehe ich auch nicht.“ Und die Regie hat erst gar nicht darüber nachgedacht.
Im Ganzen – trotz der ironischen Lichter, die manchmal gesetzt werden – ein langweiliger musealer Abend. Und die Musik? Keine Frage, dass angemessen gesungen und musiziert wurde. Ich weiß nicht. Mir schien es, dass ich das alles schon mal viel schöner und brillanter gehört hatte – zuletzt Anfang November in Frankfurt.
Im Palais Garnier ist die Zeit stehen geblieben. Nein, nicht so ganz. Wo sich einst die Großbürger zur Schau stellten, tummeln sich heute die Touristen in ihren Anoraks und Turnschuhen, mit ihren Rucksäcken und Wasserflaschen. Alles deponieren sie auf den roten Plüschsesseln – und langweilen sich. Das reife Liebespaar in der Reihe vor mir („Ach ich liebte, war so glücklich“) probte zum Mozart-Sound schon mal das Vorspiel. Ja, warum eigentlich nicht. Nichts anderes taten wohl auch die Liebespaare in der Belle Époque. Semper eadem.
Wir sahen die Vorstellung am 7. Februar 2015, die 16. Aufführung in dieser Inszenierung. Die Premiere war im Oktober 2014.