Mehr als einhundert Jahre sind schon seit der Uraufführung von Humperdincks „Märchenspiel in drei Bildern“ vergangen, und noch immer verkaufen Dramaturgen und Marketingstrategen zur Weihnachtszeit gestressten Eltern und Großeltern und erwartungsvollen Kindern Hänsel und Gretel als Musiktheater für Kinder, als Initiationsritus in die Welt der Oper.
Sie wissen nicht, was sie tun? Sie wissen schon, was sie tun. Mit diesem sadistischen und grausamen „Märchenspiel“ (hungernde Kinder, Eltern, die ihre Kinder prügeln und aus dem Haus jagen, Kinderfänger, Kannibalismus, Totschlag aus Notwehr und verlogenes Happyend) füllen sie ihre Häuser. Und die Musik? Diese Mischung aus kastriertem Wagnersound und Volkslied soll kinderfreundlich sein und Kinder für die Oper begeistern? „Das ist nichts für mich“, hörte ich die Elfjährige hinter mir maulen, während der Großvater sein Hörgerät justierte und mit einem zusätzlichen hohen Ton den Orchesterklang ergänzte.
Doch wir wollen nicht gegen die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm und auch nicht gegen einen berühmten Spätromantiker und erst recht nicht gegen bemühte Dramaturgen polemisieren. Dass Grimms Märchen sich nicht unbedingt für Kinder eignen, ist allgemein bekannt und dass auch Humperdincks Hänsel und Gretel und mehr noch seine Königskinder keine Märchen, sondern Antimärchen sind, merkt auch der naivste Opernbesucher – ganz enttäuscht – spätestens nach der Pause.
Sprechen wir lieber von der Frankfurter Hänsel und Gretel Konzeption. Und die, um es ganz simpel zu sagen, hat es in sich. Theatermacher Keith Warner nimmt Hänsel und Gretel alles Süßliche, alles Märchenhafte, alles scheinbar Kindliche. Stattdessen inszeniert er Meta- und Traumtheater, Horrorfilm und beliebte Familienserien, zitiert – sie zugleich ironisch verfremdend – Märchenfiguren und Märchenerzähler, präsentiert als Protagonisten keine naiven Kinderlein, sondern pubertierende Jugendliche in einem Schülerlandheim, denen zur Ouvertüre ein Puppenspieler mit seinen Marionetten Hänsel und Gretel vorspielt und die sich einen Spaß daraus machen, Hänsel und Gretel nachzuspielen und dabei in die Hände des pädophilen Puppenspielers fallen. Doch keine Angst, liebe Kinder, so die etwas aufgesetzt wirkende Pointe im Finale: alles war doch nur ein Spaß, ein vielleicht etwas zu bitterer Spaß, den die ewig lustige, die singende Trapp-Familie und ihre beinahe schon erwachsenen Kinder Hansi und Margarete in den Hauptrollen veranstaltet haben.
Hänsel und Gretel eine bittere Melange aus Horrorfilm und Heimatfilm mit Intermezzi aus Traumspielen. Ein Märchenspiel für Kinder? Nein, ein Antimärchen für Erwachsene mit intermedialem Horizont war im Frankfurter Opernhaus zu sehen. Ein brillant inszeniertes Antimärchen.
Wir sahen die Aufführung am 2. Januar 2015. Die 19. Vorstellung in dieser Inszenierung. Die Premiere war am 12. Oktober 2014.