Das Hohe Lied der Pädophilie. Death in Venice am Teatro Real in Madrid

Vielleicht sind wir nach all den Pädophilie Skandalen, die in letzter Zeit  publik wurden, etwas empfindlicher für das Thema der Knabenliebe geworden und hätten vielleicht eine Aktualisierung auch beim Tod in Venedig erwartet. Doch eine billige Zeitversetzung, wie sie wohl manch mittlerer Theatermacher versucht hätte, liegt dem Produktionsteam um Willy Decker gänzlich fern.

Gespielte Zeit bleibt, ganz wie es die berühmte Novelle vorgibt, die späte Belle Époque. Spielort bleiben das Luxushotel am Lido mit seinen reichen Gästen und ein eben nur  angedeutetes Venedig. Der Herr von Aschenbach ist kein Krimineller. So wenig wie Tadzio, das unerreichbare ‚Objekt der Begierde‘, ein Lustknabe ist. Aschenbach – und auch in dieser seiner Charakterisierung folgt die Regie der Novelle – ist ein schon vom Alter und von nachlassender Inspirationskraft  gezeichneter Literat, der die ‚Wirklichkeit‘ unter den ihm so geläufigen antiken Philosophemen entdeckt, dem seine Intellektualität und sein Bücherwissen keinerlei Halt mehr bieten können, der dank Eros die Schönheit entdeckt und dadurch zum Liebenden wird, den Eros und noch mehr Dionysos von den  sich selbst auferlegten Zwängen befreien und damit in Rausch und Vernichtung treiben.

Diese Interpretation ist nicht neu. Sie ist eher die gängige. Doch wie Willy Decker und sein Bühnen- und Kostümbildner Wolfgang Gussmann diese Interpretation in Bildsequenzen umsetzen, das ist grandios gemacht und höchst beeindruckend. Wie Aschenbach in der ersten Szene inmitten seiner Manuskripte auf einem riesigen  schwarzen Schreibtisch steht, wie ihm der Todesbote einen abgetragenen Mantel und einen ebenso abgetragenen Hut aufdrängt, wie er sich auf dem Schiff den homosexuellen Avancen eines alten Gecken  noch empört widersetzt, wie er  im Hotel und am Strand,  auf der Straße und im Museum nach anfänglichem Zögern sich immer mehr zu dem schönen Jüngling hingezogen fühlt, wie er überall dessen Portrait zu sehen glaubt,  wie im Traum Dionysos immer mehr Macht über ihn gewinnt und er sich im Traum mit Tadzio im Tanz und in Umarmungen verbunden sieht, wie er den Jüngling als Caravaggio Figur entdeckt: als Bacchus und als Knabe mit Früchtekorb.

Vielleicht eine der schönsten Bildsequenzen ist in diesem Zusammenhang die vorletzte Szene. Ein schon ganz in seinem Wahn verfangener Aschenbach kauft nicht Erdbeeren, wie es die Novelle will. Nein, Erdbeeren fallen aus dem Caravaggio Bild, das die Komödianten als Tableau Vivant nachstellen, auf ihn herab. Die traditionellen Früchte der Luxuria aus dem „Garten der Lüste“ wirft der „Knabe mit  Früchtekorb“  auf einen schon moribunden Literaten hinab. Auch in der Schlussszene folgt die Regie nicht Thomas Mann. Nicht Tadzio ist der Psychopomp, der den sterbenden Literaten leitet. Der Todesbote aus der ersten Szene, der mit der Figur des Gondoliere verschmilzt, ist der Charon, der hinüber leitet. Kein Sterben in Sehnsucht nach der Schönheit. Ein simpler, konventioneller Tod ist dem scheinbar so großen Literaten beschieden.

Eine jeder Hinsicht brillante Aufführung  von Brittens Death in Venice war im Teatro Real zu sehen. Und dies nicht zuletzt dank der überragenden Besetzung der Hauptrolle. Mit John Daszak in der Rolle des Aschenbach steht der Regie ein grandioser Sänger und Schauspieler zur Verfügung, der von der ersten bis zur letzten Szene diesen sich immer schneller drehenden Strudel der Vernichtung einer ‚bürgerlichen Existenz‘ glaubhaft und zugleich erschreckend hinüber zu bringen weiß.

Wir sahen die Vorstellung am 23. Dezember 2014, die Dernière.