Bietet Aix-en-Provence im allsommerlichen Festspielreigen wirklich etwas Besonderes? Wer es liebt, Oper live nach Mitternacht zu hören und zu sehen, der sollte Aix-en-Provence nicht versäumen. Dort spielt man Ariodante im Innenhof des ehemaligen erzbischöflichen Palasts, beginnt gegen 21 Uhr und endet gegen 1.30 Uhr. Und um Mitternacht da gibt es zum Finale des zweiten Akts eine ungewollte Einlage. Nein, dieses Mal streiken nicht die „Intermittents“, klappern nicht deren Sympathisanten mit Kochtöpfen. Nein, die Intermittents hatten schon vor Aufführungsbeginn einen kurzen Auftritt, trugen schön zivilisiert ihre Forderungen an den französischen Staat vor und erklärten sich arbeitsbereit. Dieses Mal lärmten wohl auf der nahen Place de l’Hôtel de Ville andere Kunstbegeisterte. So gab es denn zum Lamento der Ginevra und zur Ballettmusik afrikanischen Trommelwirbel als Basso continuo. Bewundernswert, wie sich Ginevra alias Patricia Petibon von diesem außerplanmäßigen Basso continuo nicht stören ließ und so brillant wie bisher einfach weiter sang und spielte. Und sagen wir es bei dieser Gelegenheit gleich: Madame Petibon war an diesem Abend von Gesang und Spiel und Bühnenerscheinung und nicht zuletzt auch von der Regiekonzeption her der unumstrittene Star des Abends. Wie sie sich vom unbedarften verliebten Mädel, das an Papa und Liebhaber gleichermaßen hängt, zur ‚emanzipierten‘ jungen Frau wandelt, wie sie sich vom dümmlichen Bräutigam und vom machtlüsternen Papa, die sie, unabhängig voneinander, doch letztlich gemeinsam, nahezu in den Wahnsinn getrieben hatten, wie sie sich von diesen löst und dem Terror entflieht, all dies ist schon bewundernswert – und von der Regie stringent und überzeugend angelegt.
Ich bin nicht unbedingt ein Fan des Regie-Duos Jones und Utz. Ganz im Gegenteil. Ihren Münchner Lohengrin (Häuslebauer Elsa vertreibt den Zimmermann) fand ich einen ärgerlichen Flop. Doch ihre Ariodante-Version ist intelligent und stimmig. Mit einem Wort: sofistecated. Die Regie verlegt das Geschehen aus einem pseudomittelalterlichen in das klaustrophobische Ambiente einer Sektengemeinde der siebziger Jahre. Ganz im Sinne dieser Klaustrophobie spielt sich alles Geschehen in einem einzigen Raum ab. Es gibt keine Privatheit. Es gibt nur öffentlichen Tugendterror. In dieser schottischen Sektengemeinde hat ein machtgieriger und sexgeiler Tartuffe (bei Händel der Intrigant Polinesso) das Sagen, eine Rolle, die Sonia Prina mit geradezu umwerfendem komödiantischem Talent gestaltet. Die Brüder Ariodante und Lucarnio sind, obgleich sie wohl schon länger zum Clan gehören, blasse Fremde geblieben und werden so umso leichter Opfer der Intrige.
In Aix spielt man Ariodante ohne Striche und noch dazu mit der Ballettmusik und gibt das Ballett als Marionettentheater. Marionetten stellen Ginevra und Ariodante dar, spielen als Theater auf dem Theater den Protagonisten ihr Geschick vor. Im zweiten Akt Ginevras Albtraum von ihrer Degradierung zur Hure und von ihrer Vernichtung. Im ersten und im dritten Akt (dort als scheinbares lieto fine) die Hochzeit- und die Familienidylle. Und jetzt im Finale signalisiert das Marionettenspiel noch eine zusätzliche Pointe. Ginevra flieht nicht nur vor dem Tugendterror der Gemeinde und der Erbärmlichkeit ihres Liebhabers. Sie flieht auch vor der drohenden Idylle. Sie packt einfach die Koffer und geht.
So wird in der Jones/Utz Version aus einer Händel Oper, die sich einst an einer Episode aus dem Orlando Furioso orientierte, ein modernes Emanzipationsstück, das die Männer zu lüsternen Intriganten und dümmlichen Trotteln und die Frau zur Primadonna im Wortverstande macht. Ein Stück, das von der ‚Selbstfindung‘ einer modern jungen Frau erzählt – und dies zu einer Musik, die zwar wie in der berühmten „Scherza infida“ Arie ihre Melancholie Exzesse auskostet, die aber, wie zurecht Maestro Andrea Marcon bemerkt, von „Spontaneität“ und „Frische“ bestimmt wird. Und entsprechend präsentieren sie auch Marcon und das Freiburger Barockorchester.
Bietet das Festival d‘Aix-en-Provence wirklich etwas Besonderes? Grämt nicht die lange Fahrt? Beim Ariodante sind Orchesterklang und Gesang und Inszenierung wohl vom Allerfeinsten. Das Ambiente indes enttäuscht. In den Innenhof des barocken Palasts hat man eine riesige Guckkastenbühne mit Bühnenhaus und Orchestergraben gesetzt und damit die ‚Aura‘ des Patio zerstört. Doch für all dies entschädigen ein brillantes Ensemble und das Licht und die Farben der Provence. Ob ich noch einmal hinfahre? Mag sein. „Die lange Fahrt, die geht zu End‘; ehe noch die Sonne sinkt“.
Wir sahen die Aufführung am 18. Juli 2014.