Armida, Circe und Calypso haben es besser. Ihnen bleiben zumindest die Tränen („Mi restano le lagrime“) – und das Leben. Alcina bleibt nichts. Sie muss Geliebten und Leben lassen. Ihr Held verlässt sie nicht nur. Er meuchelt sie noch dazu und weiß den Mord so aussehen zu lassen, als habe sie sich selber erdolcht. Die wieder aufgetauchte mütterliche Ehefrau Bradamante und ihr Psychiater scheinen zu triumphieren. Ein kurzfristiger Triumph. Noch über ihren Tod hinaus dominiert die sanfte Alcina den schwächlichen Ruggiero. Nicht zur Mutter kehrt er zurück. Er entschwindet ins Dunkel, in „das dunkle Reich des Todes“? Ein stupendes Finale mit impliziten Verweisen auf Freud und Wagner.
Und das war auch schon der einsame Höhepunkt einer Inszenierung, die ansonsten so dahin plätschert. Ja, wäre da nicht das Buffopaar (Buffo avant la lettre), das mit Operettengags für Unterhaltung sorgt: die verliebte Kellnerin (im Libretto Morgana, die latent lesbische Schwester der Alcina) und der Oberkellner Oronte (im Libretto der düpierte und wieder eingefangene Geliebte der Morgana). Ansonsten – wie gesagt –plätschert alles so vor sich dahin. In einem herrschaftlichen Palais mit Zugang zum englischen Garten hält sich die junge schöne Alcina einen schönen jungen Mann als Liebhaber und hat eine halbe Hundertschaft von männlichen Aktmodellen in Tiefschlaf versetzt (im Libretto die abgelegten Liebhaber der Zauberin Alcina). Zwischendurch – je nach dramatischer Situation – dürfen diese nackten oder spärlich bekleideten Mannsbilder mal aufwachen und als Komparsen oder Chorsänger agieren. Im Finale dürfen sie – jetzt schwarz gewandet – als Totengräber die eben erblichene Alcina aufs Totenbett tragen.
Ich habe meine Zweifel, ob man im Palais Garnier gut daran getan hat, Robert Carsens vor vierzehn Jahren entstandene Inszenierung wieder auszugraben. Zu den ganz großen Arbeiten des berühmten Theatermachers gehört diese seine Alcina wohl nicht unbedingt. Carsen hat aus Händels barocker Zauberoper eine Art Oscar Wilde Kammerspiel mit Operetteneinlagen gemacht. Aus dem schon von der Anlage her effeminierten Ruggiero ist bei dieser Operation ein moderner Softy geworden, der, wenn Mamma und Hauspsychiater ein bisschen Druck machen, gleich wie ein Bübchen umfällt. Die schöne Alcina hat in dieser Version gar nichts mehr von einer Circe oder Armida. Sie ist keine „Zauberin“ und erst recht keine moderne femme fatale, sondern nur eine etwas unbedarfte junge Frau, die zu spät merkt, dass man ihr ein liebes Spielzeug entwunden hat.
Keine Frage, dass diese Melange aus Kammerspiel und Operettenfirlefanz nebst Grand Opéra im Finale (keine Oper ohne Frauenleiche) routiniert in Szene gesetzt wird, dass die Grundkonzeption, mag sie auch ein wenig simpel sein, funktioniert und dass vor allem das Finale mit seinem Desaster für alle – und eben nicht nur wie im Libretto ausschließlich für Alcina – überzeugt. Und doch bleibt ein etwas schaler Nachgeschmack, den man allerdings nicht unbedingt nur der Inszenierung anlasten muss. Vielleicht lag es auch daran, dass mit Ausnahme der Titelfigur und der Morgana nicht alle Rollen optimal besetzt waren. Vielleicht lag es auch daran, dass aus dem Graben ein eher artiger und biederer Hänel klang und dass es, so schien es mir, etwas an Schwung und Temperament mangelte. Doch das ist ein absolut subjektiver Eindruck. Ein ausverkauftes Haus feierte alle Mitwirkenden. Das will allerdings in Paris nicht viel besagen. Ausverkauft ist dort immer, und begeistert ist man dort auch immer.
Wir sahen die Vorstellung am 9. Februar 2014, die laut Besetzungszettel 32. Aufführung in dieser Inszenierung. Die Premiere war im Jahre 1999.