Vielleicht – so notierte ich mir Ende vergangenen Jahres, als wir einen musikalisch wie szenisch höchst faszinierenden Tristan am Theater Lübeck erlebten – vielleicht sollte man zu den kleineren und mittelgroßen Musiktheatern fahren, wenn man ungewöhnliche Wagner-Aufführungen hören und sehen möchte. Eine Beobachtung, eine Erfahrung, die sich beim Grazer Lohengrin bestätigte. Auch hier wird – vielleicht mit gewissen Einschränkungen im Vergleich mit Lübeck – durchweg brillant gesungen. Auch hier weiß man den Wagner-Sound zu bereiten. Ja, ich weiß, der Lohengrin ist noch nicht der Tristan. Die Lohengrin-Musik ist noch eine sanfte Droge, macht noch nicht süchtig wie die Tristan Klänge. Das militärische Gedröhn stört noch. In Graz, so schien es mir, hat man dieses Laute zurückgedrängt – zu Gunsten des ‚Überirdischen‘ und des Sanften und des ‚Lyrischen‘, ohne indes den Kontrast zwischen den beiden Welten zu verwischen. Doch wer weiß, ich bin ja keine Musikerin, vielleicht habe ich das alles falsch gehört. Sagen wir es doch einfach ganz subjektiv und simpel: die musikalische Interpretation hat mir gefallen.
Und dasselbe gilt – ohne alle Einschränkungen – für die szenische. Regisseur Johannes Erath inszeniert ähnlich wie Stefan Herheim bei seinem Bayreuther Parsifal die deutsche Geschichte gleich mit. Die deutsche Romantik mit Bildzitaten von Caspar David Friedrich, die Bismarck Zeit mit Telramund in Maske und Kostüm als schneidiger (und dümmlicher) preußischer Offizier, Ortrud als machtlüsterne und intrigante Suffragette, König Heinrich als bayerischer Märchenkönig Ludwig. Und im Finale, da sind wir im Jahre 1945. Da erobern im Gegensatz zu den markigen Prophezeiungen Lohengrins die Truppen aus dem Osten das ‚Reich‘. Ein Bildzitat – das berühmte Foto, das russische Soldaten zeigt, wie sie die rote Fahne auf dem Reichstagsgebäude hissen – genügt, um die politische Katastrophe zu evozieren. Die sentimentale ereignet sich gleichzeitig auf der Vorderbühne. Sie kennt jeder Opernbesucher zu Genüge.
Und Lohengrin? Er wird, wie wir das schon oft gesehen haben, gänzlich demontiert. Aber nicht, um die Figur zu denunzieren oder gar lächerlich zu machen. Dieser Lohengrin ist kein geheimnisvoller Ritter und Retter, kein Traummann, keine Märchenfigur, kein einsamer Künstler. Er ist ein Theatercoup, ein Deus ex machina, der wie im barocken Theater auf einem Bühnenpodest herein geschoben wird, auf einem Podest voller Schwanenfedern. Und Federn fallen auch auf das Publikum im Saal – und auf das Publikum auf der Bühne. Die „brabantischen Edlen“ und ihre Damen sind Publikum für eine Theateraufführung. Publikum, das mitspielen darf. Publikum, dem zu Beginn die Augen verbunden sind. Blind sind sie und wollen sie sein für die Katastrophen, die sich anbahnen. Blind für die deutsche Geschichte und ebenso blind für die private Geschichte der jungen Frau, wie sie da in ihrem Schlabberlook durch die Reihen des Bühnenpublikums huscht. Hoffungslos ist die Geschichte dieser Elsa von Anbeginn. Und sie singt doch so schön – leider nicht unbedingt von Anbeginn.
Und Lohengrin? Dieser Lohengrin, barfuß und im weißen Jogginganzug, tut zwar alles, was das Libretto von ihm verlangt, singt all das, was der Komponist von ihm verlangt – und das tut er in der Person des Johannes Chum fürwahr brillant. Doch die Regie hat ihn zu einer absolut blassen Figur gemacht, zu einer Theaterfigur, beinahe zu einer Marionette, unfähig zu menschlichen Regungen.
So sehen wir denn als Publikum Theater auf dem Theater, sehen auf der Bühne ein doppeltes Spiel, ein politisches und ein sentimentales Stück, sehen uns selber in der Rolle des Voyeur, sehen und hören ein trauriges Stück. Nicht von ungefähr zitiert das Grazer Programmheft als Motto der Inszenierung eine Tagebuchnotiz von Cosima vom Jahre 1883. „R. spricht dann über seine verschiedenen Stoffe, immer Lohengrin als den allertraurigsten findend“. Traurig mag er ja sein der Lohengrin Stoff. Doch die „holde Kunst“ macht daraus, wie jetzt in Graz, ein ästhetisches Vergnügen.
Wir sahen die Aufführung am 21. Jänner 2014, die zwölfte Vorstellung in dieser Inszenierung. Die Premiere war am 28. September 2013.
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