Von einem Festival der alten Musik, wie es Innsbruck seit etlichen Jahren zu heißen Sommertagen veranstaltet, erwartet man eigentlich Raritäten, hübsch aufgemachte Raritäten, wenn möglich Ausgrabungen, Musik, die seit Jahrhunderten nicht mehr gespielt wurde. La Clemenza di Tito, mit der in diesem Jahr die Innsbrucker Festwochen beginnen, ist fürwahr keine Rarität, sondern eher ein Repertoirestück, eine späte opera seria, der so mancher Theatermacher recht hilflos gegenübersteht.
In Innsbruck wird aus dem Repertoirestück eine Rarität: man spielt die „Fassung des Wiener Hoftheaters am Kärntnertor (1804) mit neuen Kompositionen“, d.h. mit Einlagen von Joseph Weigl und Johann Simon Mayr. Und da alle diese Einlagen – es sind fünf an der Zahl – der Person des Tito zugeordnet sind, wird dieser entgegen den gängigen Aufführungen zur Hauptperson der Oper. Wenn dann wie jetzt in Innsbruck noch hinzukommt, dass das Regieteam (Christoph von Bernuth (Regie) und Oliver Helf (Ausstattung) nicht die abgedroschene Praxis wiederholt, die opera seria zu ‚dekonstruieren‘, die Figur des Herrschers zum Trottel zu machen und dessen Verhalten und vor allem den Gnadenakt als Masochismus eines Gestörten und latente Grausamkeit eines Despoten zu ’entlarven‘, ja dann geschieht etwas Seltsames. Man sieht und hört über weite Strecken hinweg ein ganz neues Stück.
An dem in den Mittelpunkt des Geschehens gerückten Tito und an dem so innerlich zerrissenen Verschwörer Sesto exerziert das Regieteam den Freundschaftsdiskurs des 18. Jahrhunderts und scheut sich nicht, die homoerotische Komponente des Freundschaftsthemas ausspielen zu lassen. Die homoerotische Freundschaft, die erlittene, verratene und im lieto fine scheinbar wiederhergestellte Freundschaft ist Leitthema und Grundkonzeption der Inszenierung. Angesichts der Dominanz dieses Themas, das die beiden Protagonisten Tito und Sesto (in den Personen des Carlo Allemano und der Kate Aldrich) so brillant und souverän als Sänger und Schauspieler in Szene setzen, werden alle anderen Personen zu Chargen. Vitellias Intrige und ihre große Arie „Non più di fiori vaghe catene…“, die konventionellen Huldigungen des Volkes an den Herrscher, mögen Solistin und Chor auch noch so schön singen, all das wird konventionelles Beiwerk. Was allein zählt, ist das – vielleicht sollten wir sagen – das tragische homoerotische Spiel zwischen einem alternden Mann und einem androgynen Jüngling, ein Spiel und zwei Rollen, die die beiden Protagonisten schon von ihrer Bühnenerscheinung her geradezu perfekt verkörpern.
Endlich einmal eine Aufführung, die auf allen Trash verzichtet, das Politische zwar nicht ganz verdrängt, doch es in die zweite Reihe verweist (die schwarz gewandeten Choristen mit ihrem militärischen Gehabe sollen wohl eine ferne Reminiszenz an Mussolinis Schwarzhemden sein). So sahen und hörten wir denn eine La Clemenza di Tito, die sich ganz auf den privaten Konflikt zwischen zwei Liebenden konzentriert. Eine Konzeption, die überzeugt und zugleich fasziniert.
Keine Frage, dass das Orchester der Academia Montis Regalis unter seinem Dirigenten Alessandro De Marchi perfekt, vielleicht im ersten Akt ein bisschen zu kalt perfekt, musiziert. Im zweiten Akt da assimiliert es sich gleichsam an die Leidenschaften der Bühnengestalten und spielt passioniert und mit Elan – geradezu im Wettstreit mit den Sängern auf der Bühne.
Das Innsbrucker Festival der alten Musik, das in den letzten Jahren in edler Langeweile dahin zu scheiden drohte, hat wieder neuen Schwung bekommen. La Clemenza di Tito in Innsbruck ist eine Reise wert. Ein großer Opernabend.