Wagner „ist verhängnisvoll für das Weib“. „Ganz Opfer, ganz Hingebung: man hat nichts, was man ihm nicht geben würde“. „Das Weib verarmt sich zugunsten des Meisters, es wird rührend, es steht nackt vor ihm“. Eine Beschreibung der Wagnerianerin, die ich bisher immer für eine satirische und misogyne Bemerkung Nietzsches gehalten habe. Dass die Realität die Satire übertreffen kann, am vergangenen Sonntag nach der Premiere zur Berliner Götterdämmerung, dort hab ich‘s erlebt. Kaum war der letzte Akkord verklungen, brach eine Dame mittleren Alters in der Reihe hinter mir in kreischendes Geschrei aus, konnte sich überhaupt nicht mehr beruhigen, schrie nur immer lauter und hysterischer. War das der berüchtigte Orgasmus in der Opernloge, den der „alte Minotaurus“ namens Wagner ausgelöst hatte? Aber vielleicht hat die Dame auch nur eine Opernaufführung mit einem Pop Konzert verwechselt. Nicht zuletzt wegen dieses für alle Umstehenden schmerzhaften Brunstgeschreis sind wir noch beim Applaus aus dem Parkett geflüchtet. Grund zu übermäßigem Beifall gab auch nicht. Was da am langen Premierenabend im Schillertheater geboten wurde, war, um es freundlich zu sagen, eine recht konventionelle Götterdämmerung.
Keine Frage, dass der weltberühmte Maestro mit seiner Staatskapelle einen Wagner der Spitzenklasse präsentiert und entsprechend von der Feuilleton-Kritik ehrfürchtig bejubelt wird. Ich muss gestehen, dass ich es musikalisch gar nicht so überragend fand, dass in München Kent Nagano einen weit raffinierteren Wagner zelebriert, einen Wagner der rauschhaften Pianissimi und dass der dynamische Wagner, den am Abend zuvor das Berliner Rundfunk-Sinfonieorchester unter Marek Janowski in der Philharmonie bot, mir weit besser gefallen hat als Barenboims Interpretation. Keine Frage auch, dass im Schillertheater erstklassige Sänger auf der Bühne stehen, wenngleich, mit Verlaub gesagt, die Protagonistin, mag sie auch noch immer in aller Welt singen, wohl erst im Schlussgesang zu brillieren wusste. Aber vielleicht war sie auch an diesem Abend nicht in der gewohnten Hochform, und nur deswegen klangen ihre Spitzentöne manchmal so unangenehm schrill.
Für die Inszenierung des belgischen Theatermachers Guy Cassiers trifft das zu, was ich mir schon zu seiner Walküre und zu seinem Siegfried notiert hatte: die Inszenierung verzichtet von vornherein auf jeglichen intellektuellen Ehrgeiz. Sie zaubert stattdessen im Spiel der Hologramme und bunten Videos wunderschöne Bilder herbei. Mit einem Wort: sie bietet Dekorations- und Illustrationstheater. Doch eigentlich erwartet man von einer Wagner Inszenierung an einer renommierten Staatsoper ein bisschen mehr als Illustrationen der Handlung und Bühneneffekte, so überraschend sie auch sind und so schön sie auch anzusehen sind. Es muss ja nicht gleich Metatheater, Ideologiekritik, Rezeptionsgeschichte, radikale Aktualisierung oder gar Parodie und Kasperletheater sein. Aber irgendeine Grundkonzeption sollte es doch geben und wenn es sie schon nicht gibt oder wenn sie für die Dilettantin nicht erkennbar ist, dann sollte doch zumindest die Personenregie nicht ganz so konventionell sein.
Da hocken nun die Nornen dekorativ auf einem Podest, von dem sich praktischerweise die Decke wegziehen lässt, und hervorkommt eine Art Grabmal, auf dem ein schlafender Siegfried in Rockermontur als seine eigenen Statue liegt und den eine Brünnhilde in weitem weißem Gewande und langer blonder Perücke wach küsst. Überdeutliche Signale, die jeder im Saal zu dechiffrieren weiß. Zu Siegfrieds Rheinfahrt zeigt die Tanzgruppe ihre Künste. Vielleicht mimen sie Dämonen wie später auch beim Betrug an Brünnhilde? Die Gibichungen tragen Kostüme, die an bayerisches Bauerntheater erinnern und residieren wohl in einer Art archäologischem Museum, das sich in seinen Vitrinen auf zerbrochenen antiken Fries spezialisiert hat. Vielleicht sind das Trümmer von Darstellungen vom Kampf der Götter mit den Giganten? Im Finale wird dieser Fries den gesamten Zwischenvorhang bedecken. Ein versteckter Hinweis auf die Fresken von Giulio Romano im Palazzo Te in Mantua? Ein Verweis auf das Ende der Götter und der Giganten und der Menschen? Vielleicht? Warum nicht ?. Das Programmheft lässt uns wissen, dass Ganze sei ein Verweis auf ein Fries von Lambeaux mit dem Titel Les Passions humaines. Darauf wäre ich wirklich nicht gekommen.
Ich kann nur wiederholen: der Berliner Ring ist ein Fest der Hologramme, der Videos, der bunten Bilder, Bilder, denen man hin und wieder auch symbolische Bedeutung zuerkennen vermag. Von einem überzeugenden Regiekonzept, wenn es denn überhaupt eines gibt, kann nicht die Rede sein. Im Gegenzug wird im Berliner Ring, von wenigen Ausnahmen abgesehen, brillant gesungen und herausragend musiziert. Wenn man indes einen faszinierenden, rauschhaften Wagner hören will, wenn man nicht nur brillante, sondern höchst brillante Sänger hören will, dann sollte man zum konzertanten Ring des Berliner Rundfunk-Sinfonieorchesters in die Philharmonie gehen. Und wenn man den Ring als Gesamtkunstwerk, bei dem alles stimmt, bei dem Musik und Gesang , Szene und Regie vom Allerfeinsten sind, erleben will, dann sollte man den neuen Münchner Ring nicht versäumen.
Wir sahen die Premiere der Berliner Götterdämmerung am 3. März 2013.