Händel und Lotti. Von Elend und Glanz eines in die Jahre gekommenen Festivals. Ein Wochenende bei den Händel – Festspielen in Halle
Zum fünften Male hintereinander bin ich jetzt nach Halle gefahren. Dieses Mal – nach der Premiere von Händels Ottone im Opernhaus – habe ich mir gesagt: das war das letzte Mal. Mein Eindruck war – um es ganz vorsichtig auszudrücken – nicht der beste. Oder sagen wir es in aller Deutlichkeit, ohne vornehme Zurückhaltung. Es war – zumindest für mich – eine desaströse Aufführung. Ein lustloser und langweiliger Händel Sound, den das Festspielorchester produzierte. Sänger, die nicht unbedingt faszinierten. Eine Inszenierung, die sich wohl an der Kölner Kinderoper orientierte: Prinz Eisenherz und die kleine Prinzessin aus dem Morgenland, die Hexenmama und der verliebte Tölpel, der Pirat und die verstoßene Prinzessin Tante mit Amazonengehabe. Ja, warum soll man nicht eine Opera seria zum Kindermärchen transponieren und dabei den Erwachsenen mit Ironiesignalen zu verstehen geben, dass man die Märchenfiguren und ihr Agieren nicht im geringsten ernst nähme, dass es mitnichten ein ‚lieto fine‘ gäbe, dass die kleine Prinzessin Teofane das märchenhafte Ende nur inszeniert habe und die Bösen immer die Bösen blieben. Und natürlich kann man das Märchen, damit die Zuschauer – ganz im Sinne der Barockästhetik – auch etwas zum ’Staunen‘ haben, mit Materialien aus dem Kulissenfundus der Opera seria garnieren: der verliebte König Ottone darf mit einer Schaukel gen Himmel und wieder zurück auf die Erde fahren. Ein Feuerwerk macht sich immer gut, und ein Schiffchen, mit dem der König in den Hafen und der Pirat aufs Meer fahren können, das hat sich auch noch im Fundus gefunden. Das ist alles sehr schön. Das ist durchweg bieder. Das ist manchmal komisch. Das ist meist einfältig. Festspielmäßig ist es nie. So fragt man sich, warum die Leipziger Operndirektorin, die den Ottone in Szene gesetzt hat, nicht einfach aus Leipzig die fulminante Admeto Inszenierung, die dort im vorigen Jahr zu sehen war, nach Halle mitgebracht hat. Auf diese Weise hätte sie sich und ihrem Team Arbeit und Müh ersparen können und uns im Publikum nicht gelangweilt und verärgert. Aber vielleicht waren wir frustrierten Zugereisten doch nur eine verschwindet kleine Minderheit. Die Hallenser und sicher auch manche Zugereisten klatschen zufrieden. Vor mir schlug sich ein älterer Herr vor Begeisterung auf die Schenkel: ob der wieder entdeckten Kindheit? Oder war er ein Claqueur? Nach Halle, so sagte ich mir nach Premiere, fahre ich nicht mehr. Nach Halle, so sagte ich mir, nach dem Rinaldo am übernächsten Tag im Goethe Theater in Bad Lauchstädt und erst recht nach der konzertanten Aufführung von Lottis Teofane im dortigen Kursaal, fahre ich nächstes Jahr wieder. Eine wunderschöne Musik, brillante Sänger, ein hochmotiviertes Orchester, die Dresdner Kapellsolisten. „Neapolitanische Schule“ so nennen die Musikhistoriker die Festoper Teofane (Lottis Ottone Version), die laut Programmheft anlässlich der Hochzeit des Kronprinzen im Jahre 1719 am Dresdner Hof glanzvoll uraufgeführt wurde. Sei’s drum. ‚Contorni‘, so interessant sie auch sein mögen, die man nicht unbedingt kennen muss, um die virtuose Musik eines Antonio Lotti für sich zu entdecken. Dass man mit Händel nicht langweilen muss, dass sich mit Händels Zauberoper Rinaldo das Publikum ‚verzaubern‘ lässt, das erfuhr man am Sonntagnachmittag im Lauchstädter Goethe Theater. Dort spielte die „Lautten Compagney“ einen durchrhythmisierten schnellen, temperamentvollen Händel ohne jegliche Melancholie Exzesse. Dort sang von den beiden Seitenemporen ein höchst brillantes junges Ensemble. Dort agierten auf der Bühne Marionetten. Ich war erst skeptisch. Rinaldo, den ich schon so viele Male in unterschiedlichsten Inszenierungen gesehen hatte, jetzt als klassisches italienisches Marionettentheater? Doch wie die Mailänder „Compagnia Marionettistica Carlo Colla e Figli“ in einem naiven perspektivischen Bühnenprospekt ihre in mittelalterliche Kostüme gekleideten ‚Pupi‘ agieren ließ, vollkommen synchron mit den Rezitativen, den Arien und dem Orchesterklang, das war einfach bewundernswert. Zwar gab es zu Beginn einige verständnislose Lacher im Publikum. Doch mehr und ließen sich wohl alle im Publikum in die Zauberwelt der Illusionen entführen. Gut möglich, dass bei den Saunatemperaturen, die in Goethes Theaterscheune herrschten, der eine oder andere auch eingeschlafen ist und erst beim begeisterten Schlussapplaus wieder aufgewacht ist. Ein Glück nur, dass es unter den Zuschauern keinen Don Quijote gab. Der wäre bestimmt der bedrängten Almirena („Lascia ch’io pianga mia cruda sorte“) zu Hilfe geeilt und hätte den bösen Mohren Argante erschlagen und die Marionetten und alle Illusionen dazu. So gab es nur einen garstigen Hobbyfotografen, der seinen Gelüsten nachgab und die Illusionen zu zerstören suchte.