Ein Bruderzwist im Hause Gral? – Traumata im Klosterlazarett? – Im spanischen Bürgerkrieg? – Im ersten Weltkrieg? – „Raffinement im Bündnis von Schönheit und Krankheit“ ? Claus Guth inszeniert Parsifal in Barcelona
Viele Male habe ich in den letzten Jahren Parsifal gehört und gesehen: in München, in Zürich, in Leipzig, in Stuttgart und zuletzt in diesem Jahr in Brüssel und im Liceu in Barcelona. Inszenierungen der unterschiedlichsten Art, die begeistern oder zum Widerspruch provozieren. Und die Musik? Sie wird mir wohl auf immer ein Rätsel bleiben: sie fasziniert, sie verzaubert, sie lullt ein, sie berauscht, nein, sie berauscht nicht: dieses ewig Getragene, dieses ewig Zurückgenommene, dieses unendliche Piano, dieses Pseudofeierliche, dem alle Ironie so fern zu liegen scheint, dem alle Lust, nur „böse Lust“ ist. Unsere Musiker sinken vor der „erlesenen Schönheit“, vor dem „überwältigenden Wunder“ dieser Klänge geradezu auf die Knie und verdrängen Nietzsches Warnungen vor dem „Verführer großen Stils“, vor der „Falschmünzerei der Transzendenz und des Jenseits“ – vor der „Überredung der Sinnlichkeit, die ihrerseits wieder den Geist mürbe und müde macht […]“. Der Parsifal, so heißt es weiter bei Nietzsche, „wird in der Kunst der Verführung ewig seinen Rang behalten, als der Geniestreich der Verführung“. Der Parsifal sei ein „Raffinement im Bündnis von Schönheit und Krankheit“. In Barcelona war für die Dilettantin wenig von „Schönheit und Krankheit“ zu hören. Dafür um so mehr von Kathedrale und Hochamt. Einer Feierlichkeit, der die Regie vorsichtig gegenzusteuern suchte. Vielleicht hat Theatermacher Guth sich an dieses „Bündnis von Schönheit und Krankheit“ erinnert, als er in Barcelona ein Kloster (für die Spanier natürlich einen Parador), ein Kloster mit Innenhöfen und einer Vielzahl von Zellen und Sälen, mit schwingenden Treppen und grünem Rasen zum Spielort machte und dieses Kloster zum Lazarett umfunktionierte, in dem eine Schar von Verwundeten und Gestörten herumhumpelt, die Knappen zu Krankenschwestern werden, Kundry zu einer Mischung aus Oberschwester und Irrer, Gurnemanz den betulichen Lazarettpfarrer macht, Klingsor den eleganten Verwaltungsdirektor, der zum Karnevalsfest die Schönen aus der Stadt einlädt und seine Maitresse Kundry dazu drängt, einen lästigen Knaben auf der grünen Wiese (vielleicht der locus amoenus? ) in die Liebesspiele einzuführen. Und dieser Klingsor – das erfahren wir aus einer Pantomime zur Ouvertüre – hat sich mit seiner Familie zerstritten, mit Vater Titurel und Bruder Anfortas, und wird sich im Finale, wiederum pantomimisch, mit dem Bruder versöhnen. Regisseur Guth, das wissen wir schon von seiner Zürcher Ariadne, seinem Wiener Tannhäuser, von seinem Salzburger Mozart, versteht sich darauf, die alten Geschichten stets neu zu erzählen, neue aktualisierte Varianten der Mythen in Szene zu setzen, Mythen, die wir längst zu kennen glaubten. Sein Parsifal ist der neue jugendliche englische (oder vielleicht spanische) Offizier, der die Traumatisierten im Lazarett aus ihrer Dumpfheit herausführt und dafür im Finale schon mal als sein eigenes Denkmal posiert, der neue Militär, der die alten Kommandanten Anfortas und Klingsor zur Abdankung zwingt. Und die Gralsspeise ist wohl nur so eine Art Psychopharmakon, das den müden Lazarettbewohnern neue Kraft gibt. Eine Konzeption, die von Wagners Bühnenweihfestspiel wenig übrig lässt und die es dennoch nicht zertrümmert oder parodiert und banalisiert. Sie entfernt nur das religiöse Getue, sei es nun christlicher oder buddhistischer Provenienz, und betont die Hoffnungslosigkeit, das Traumatisierte, die Rettung, die doch nur Illusion ist und findet oder zitiert dafür, eben im Bündnis von Schönheit und Krankheit“ immer wieder ‚schöne’ Bildsequenzen. Die Pantomime zu Beginn – der Bruderzwist um den Gral – zitiert Da Vincis Abendmahlszene, die Liebesspiele im zweiten Akt zwischen Kundry und Parsifal im Klostergarten erinnern an mittelalterliche Miniaturen. Und das Karnevalsfest mit den „Blumenmädchen“ zitiert das obligatorische Fest im zweiten Akt in jeder klassischen Operette. Nicht zuletzt auch mit der – sanft – eingesetzten Waffe der Ironie sucht die Regie dem Feierlichkeitspathos entgegenzusteuern. Titurel, der sich nur mühsam die Treppen zum Gralsschrein emporziehen kann, schreitet, nachdem er seine Dosis bekommen hat, wie ein Biedermeiergeck tänzelnd davon, die Ärzte (bei Wagner „Erster und Zweiter Gralsritter“) passen als Karikaturen in jede Medizinersatire, Lazarettsaal und Speisesaal (bei Wagner der „mächtige Saal der Gralsburg“) verweisen auf das Zauberberg Ambiente, und Gurnemanz könnte neben seiner Rolle als Anstaltspfarrer auch gleich die des Chefarztes im Zauberberg Sanatorium mit übernehmen. Guths Parsifal ist nicht so anspruchsvoll und so vieldeutig wie Castelluccis Brüsseler Inszenierung. Guth will anders als Castellucci nicht auch noch ein Welterklärungsmodell präsentieren. Er begnügt sich mit einer aktualisierten Variante des Mythos und überträgt diese in großes, in packendes, bis hin zur letzten Szene spannendes Theater. Unnötig zu sagen, dass in Barcelona Stars der internationalen Opernszene engagiert sind und dass brillant gesungen und agiert wird. Wir sahen die Vorstellung am 12. März – die letzte der laufenden Serie. Die Inszenierung ist als Koproduktion mit der Oper Zürich entstanden und wird dort zu sehen sein. Die Premiere war am 20. Februar 2011.