Oratorium mit Sex und Crime Einlagen. Benjamin Britten: The Rape of Lucretia – eine sehr hybride Angelegenheit im Theater an der Wien
Zur Musik – das steht mir als Dilettantin zu – sag ich gar nichts. Doch auch dem Unbedarftesten im Publikum fällt auf, dass die höchst kunstvolle, doch so arg dünne Kammermusik, die da aus dem Graben –nein nicht erklingt, sondern sich mühsam Gehör zu schaffen versucht, in einem seltsamen Kontrast zum vielfältigen Bühnengeschehen und einer sich in den Vordergrund drängenden Inszenierung steht. Für Britten und seinen Librettisten ist die Lukrezia Oper zugleich ein Oratorium mit den gattungsbedingten christlichen Meditationen, eine griechische Tragödie mit dem das Geschehen kommentierenden Chor, eine Militärklamotte mit dumpfen alkoholisierten Militärs und gewalttätigen Machos, eine zeitgenössische politische Parabel von der Befreiung vom Tyrannen, eine Karikatur des Ehemanns, ein Actionfilm mit Notzucht und Selbstmord, eine Liebestragödie. Alles zugleich und alles ein bisschen zu viel – eigentlich eine Materialsammlung für die großen Opern des 19. Jahrhunderts. Statt zumindest ein wenig gegenzusteuern und zur Kammermusik ein Kammerspiel zu inszenieren, setzt die Regie noch eins drauf und erfindet noch eine – verhaltene – Liebesgeschichte zwischen den beiden Oratoriensängern („Male Chorus“ und „Female Chorus“) hinzu und lässt gleich auf drei Spielflächen simultan agieren: auf der Vorderbühne, auf der die Militärs und Lukrezia agieren und in zwei über die Bühne gesetzten kleinen Räumen: einem Landhausstudio nebst Bibliothek, Schreibtisch, Sessel und Whiskyflasche für den ältlichen Erzähler und Kommentator und einem modernen Studio im College Stil für die weibliche Erzählerin und Kommentatorin. Die Assistentin und Exgeliebte des Stubengelehrten von nebenan? Bei so viel inszenatorischem Aufwand will auch die Bühnenmaschinerie nicht zurückstehen und darf das alte (mythologische und metapoetische) Motiv des Webens, das beim ersten Auftritt der Lukrezia zitiert wird, gleich mit einem überdimensionalen Webstuhl, der von der Hinterbühne herein geschoben wird, illustrieren. Und wie es sich für eine richtige Tragödie gehört, darf sich die arme Lukrezia auf offener Bühne spektakulär morden. Mit dem Dolch, den ihr die Erzählerin (Studentin, Kommentatorin, Geliebte…) reicht. Zu solchem Behufe darf diese sich kopfüber aus ihrem Studio herabhängen. Und im Zimmer des Intellektuellen probt man derweil den Aufstand gegen die Tyrannen. Keine Frage, dass die Inszenierung spektakulär und spannend ist, dass ein Ensemble brillanter Sängerschauspieler auf der Bühne singt und agiert. Trotzdem verbleibt ein eher zwiespältiger Eindruck: von allem Äußeren gibt es ein bisschen zu viel. Von der Musik ein bisschen zu wenig. Und damit sind wir wieder bei der Variante der alten Frage: „Prima la musica e poi…“? Oder umgekehrt? Im Theater an der Wien hat man sich bei Brittens Lukrezia für den Vorrang des Spektakels entschieden. Wir sahen die Aufführung am 25. Februar. Die Premiere war am 17. Februar 2011.
Am Abend zuvor war eine Rarität zu hören: eine konzertante Aufführung von Pergolesis L’Olimpiade. Ja, ich weiß: man darf nicht Äpfel mit Birnen vergleichen oder alte Musik mit neuer Musik. Trotzdem: Pergolesi hat mir besser gefallen als Britten.