Was ich mir fast auf den Tag genau vor einem Jahr notierte, als wir die Premiere sahen, das gilt ohne alle Einschränkungen auch für die Wiederaufnahme, die wir heute sahen: grandiose Sänger im historischen Kitsch. Doch seien wir nicht so streng und sprechen statt dessen von dem anerkennungswerten Versuch, klassisches französisches Theater in eine Händel Oper zu transformieren.
„Mehr als ein Jahrzehnt lang war München berühmt – für konservative Händelverehrer vielleicht auch berüchtigt – für seine spektakulären Händelinszenierungen. Und jetzt zum Finale der Händel Ära macht man drei Schritte zurück, zurück in puren Konventionalismus, in eine historische Aufführungspraxis im Stil der französischen Klassik und versucht ohne eine Spur von Ironie oder gar Parodie, Opas Barockoper wiederauferstehen zu lassen.
Man mag ein solches Verhalten wohlwollend als eine mögliche Variante der Händelrezeption verstehen, als eine anachronistische Variante, als Zitat aus dem Almanach des Opernmuseums, als ganz gezieltes Absetzen vom großen Spektakel. Ja, warum soll man Händel nicht auch einmal so spielen, wie man einstens Racine in französischen Theatern aufführte: steif und hoheitsvoll, zeremoniell und – langweilig. Zu diesem Behufe steckt man grandiose Sänger, in steife Barockkostüme, lässt sie hoheitsvoll schreiten, sich würdig am Boden lagern oder auch mal auf dem Boden herumrutschen, lässt sie geradezu wie Marionetten ihre Arien immer wieder von der Rampe singen, hüllt in den ersten beiden Akten den Bühnenraum in mattes Licht, lässt auch schon mal feierlich aus dem Halbdunkel heraus singen, wählt für die ersten beiden ersten Akte als Ort des Geschehens eine Art höfischen Empfangssaal und verlegt den dritten Akt in eine Art Scheune, in der der Selbstmord des Bajazet als Nachstellung von Senecas Tod zelebriert wird oder, wenn so will, auch als säkularisierte barocke Märtyrertragödie in Szene gesetzt wird. Was soll das Ganze, so fragt man sich. Ist unsere Sicht, unsere Rezeption schon so deformiert, dass wir uns Barockopern nur noch als Musical, Revue, Filmzitatenbuch, als großen Karneval, als grandioses Bühnenspektakel vorstellen können und uns bei historisierenden Aufführungen langweilen? In München hat sich das Produktionsteam unter Pierre Audi dafür entschieden, ein angeblich im kleinen Schlosstheater in Schweden, in Drottningholm, erfolgreiches Konzept auf die große Bühne der Staatsoper zu übertragen und Tamerlano als ein gleichsam abgezirkeltes rituelles Kammerspiel begriffen, als eine Art klassisches französisches Theater, das ohne alle Requisiten, ohne allen Firlefanz auskommt und in dem alle Dramatik allein aus der Sprache, aus dem Miteinander- und dem Gegeneinander- und dem mit Sich-Selbst-Reden entsteht. Ein Konzept, das, wird es auf die Oper übertragen, Musik und Gesang über alles stellt und das auf allen Aktionismus und alle Transponierung des Geschehens in eine Bildersprache verzichten kann. Prima la musica e poi la messa in scena. Wenn dies das Inszenierungskonzept gewesen ist, dann ist es in München erfolgreich umgesetzt worden. Man fragt sich indes, wenn sich Regisseur und Ausstatter auf eine solch minimalistische oder auch selbstlose Position zurückgezogen haben, in der sie sich eigentlich schon selber aufgegeben haben, warum man sich dann nicht gleich für eine konzertante Version des Tamerlano entschieden hat, zumal die Musik, wie Ivor Bolton, der für den musikalischen Part verantwortlich zeichnet, bemerkt, „auf einem fantastisch hohen Niveau“ steht (zitiert nach dem Magazin der Bayerischen Staatsoper4. 07/08). „Auf einem fantastisch hohen Niveau“ wird in München auch gesungen und musiziert – in einer Bühnenfassung allerdings, die in die Welt von Vorgestern gehört, ins bayerische Opernmuseum“ (zitiert nach: Zerlina von Faninal, „Die schöne Musik! […]Da muß ma weinen“. Vom Spektakel der Inszenierungen. Blätter aus Zerlinas Operntagebuch (2005-2008). München – Zürich – Salzburg – Stuttgart – Wien – und die Provinz. München, Martin Meidenbauer Verlag, 2008, S. 163-165).