Norma mit Jossi Wieler in der Staatsoper Stuttgart
Ja, ich weiß, eine gelungene Inszenierung ist polyvalent und soll zu immer wieder neuen Deutungen herausfordern. Und Wielers Stuttgarter Norma gehört offensichtlich zu den wenigen Inszenierungen auf der Opernbühne, die diese Bedingungen erfüllen. Vor gut zwei Jahren hatte ich sie schon einmal gesehen und die Inszenierung als böse Parodie über Fundamentalisten und Machos verstanden, die unabhängig voneinander doch faktisch im trauten Einvernehmen eine liebende Frau zugrunde richten. Und präsentiert wurde dies alles im Stile des italienischen Neorealismo mit Verweisen auf die Kultfigur jener Zeit: auf Anna Magnani. Die Vorstellung, die wir heute gesehen haben, suggeriert ganz andere oder besser gesagt: weit kohärentere Deutungen. Weit mehr als eine Tragödie unter Fundamentalisten und Machos ist Wielers Norma ein neorealistischer Film aus der Zeit der Resistenza, der Zeit der Partisanenkämpfe gegen die faschistische Herrschaft. Hat man diese Grundidee einmal erfasst, dann versteht es sich unschwer, dass nicht mehr ein römischer Prokonsul in Gallien, sondern ein faschistischer Kommandant in Sizilien oder Kalabrien der verhasste Gegenspieler der Dorfbewohner ist und dass diese ihre Maschinenpistolen in den Katakomben der Dorfkirche horten. In diesen Szenarium versteht es sich dann auch (beinahe) von selbst, dass Norma keine heidnische Priesterin mehr ist, sondern dass ihr als schönster Frau des Dorfes und Tochter des Bürgermeisters eine Sonderrolle zukommt, dass sie gleichsam die von allen geliebte und gefürchtete Dorfhexe ist, der man magische Fähigkeiten zutraut und ohne deren Segen man keinen Aufstand gegen die faschistischen Unterdrücker wagen kann. Und als diese unsere Dorfschönheit öffentlich bekennt, dass sie seit vielen Jahren mit dem verhassten Kommandanten heimlich zusammenlebt, da wird sie als Verräterin von den Dorfbewohnern umgebracht.
Aus einer „gallischen Oper“, die der vorlautete abgetakelte Macho gleich in der Reihe hinter mir erwartete, ist bei Wieler eine neorealistische Filmtragödie geworden, eine Tragödie, die ihre Ursache allerdings weniger in den widrigen Zeitläufen als vor allem in klischeehaften privaten Gründen hat. Eifersucht, Untreue, Rachsucht sind es, die im zweiten Akt zur Operntragödie führen – und im Finale des ersten Akts direkt in eine Komödiensituation, zu den Szenen einer Ehe, in denen die betrogene, keifende Ehefrau den Ehemann nebst Au Pair Mädchen aus dem Hause wirft (als solches und nicht als keusche Novizin wird die störende Dritte, das neue Objekt der Begierde des Ehemanns gegeben). Von der Tragödie zur Komödie, so haben wir es ja viele Male gelesen und gehört, ist es halt nur ein Schritt.
Ein stringentes und überzeugendes Regiekonzept, das allerdings nur den Strukturen und nicht dem Text des Librettos entspricht. So sollte man die Übertitelung besser abschalten. Sie verwirrt nur den armen Zuschauer.
Gesungen wurde nach einem etwas zögerlichen Beginn recht brillant. Warum die so berühmte Casta Diva-Arie nur gehaucht wurde, habe ich nicht verstanden. Dass die Tenöre es in den Belcanto Opern gegen die Damen schwer haben (und hier in der Norma muss es der Tenor gleich mit zwei Damen aufnehmen) und dabei leicht zu lächerlichen Figuren werden, das weiß man. In der Stuttgarter Norma hat der arme Tenor gegen die beiden russischen Damen, die da auf der Bühne standen (Tatiana Pechnikova und Marina Prudenskaja) überhaupt keine Chance, und im Finale, da hat ihn die Regie einfach vergessen und lässt ihn irgendwo als Gefangenen unter den Dorfbewohnern stehen. Welch traurig Los trifft immer wieder unsere Opernmachos.
Die Premiere war am 29. Juni 2002. Wir sahen die 49. Vorstellung.