13. 11. 08
Um es gleich vorweg zu sagen: Michael Volle ist an diesem Abend ein alles und alle überragender Sängerschauspieler. Wie er den immer mehr sich in seinen Irrsinn steigernden und sich ausweglos darin verfangenden Wozzeck singt und darstellt, das ist einfach bewundernswert. Um es gleich vorweg zu sagen: ich mag weder Büchners fragmentarisches Theaterstück noch die Musik des Alban Berg. Unterschichttragödien und die Ästhetik des Hässlichen auf der Bühne finde ich einfach unerträglich. Geradezu unappetitlich ist es, wie die satten, elegant gekleideten, gut verdienenden Bürger und Rentiers nebst Gattinnen sich am proletarischen Theater der Hässlichkeit verlustieren, mögen sie sich dabei auch in der Gesellschaft solch illustrer Literaten wie Baudelaire, Zola, der Frères Goncourt und vieler anderer dekadenter Künstler befinden, die allesamt den morbiden Reiz der Armen und der Irren genossen und das Hässliche und das Deformierte gesucht haben, weil sie, unsere so feinsinnigen Literaten, des Schönen, des Sublimen und des Erhabenen überdrüssig geworden waren. Auch unser guter B. B. liebte es ja, seine Theatergeschäfte mit der Not und dem Leiden der Unterschicht zu machen, und ein offensichtlich Brecht geschädigter Starregisseur wie Andreas Kriegenburg fährt munter auf dieser gänzlich abgefahrenen Schiene weiter, wohl wissend, dass sie mühelos zum Erfolg führt. Und wenn zur Brechtmanie auch noch das Traumtheater oder anders gesagt: das Delirium hinzukommt, dann kann nichts mehr schief gehen. Das Panoptikum grotesker Figuren, das sich da auf der Bühne versammelt, begreift sich ja leicht als Traumvisionen eines kranken Hirns, als Fieberphantasien eines ausgehungerten und gequälten Individuums. Vor allem in diese Richtung und wohl weniger auf die Brecht Tradition hin sucht die Regie die Aufmerksamkeit zu lenken. Die Fieberphantasien wären es dann, die die grotesken Leiber und die nicht minder grotesken Situationen produzieren: den Hampelmann von Tambourmajor, den Fettklos von Hauptmann, die Marionette bzw. die seelenlose Maschinenfigur des Doktors, die schwarz kostümierten Arbeitslosen, die sich wie hungrige Fische auf der Suche nach Nahrung in einen See stürzen und die wie Erinnyen dem irren Wozzeck, der gerade seine Marie abgestochen hat, immer wieder das Messer reichen.
Ja, man hält es eigentlich nicht für möglich. Trotz der so unwirklichen Traumphantasien gibt es einen richtigen See zum Plantschen auf der Vorderbühne, in dem der arme Wozzeck sich nach getaner Tat ersäufen kann. Und unser eleganter Generalmusikdirektor muss, wenn er den Schlussapplaus huldvoll entgegen nimmt, doch sage und schreibe zum Frack Gummistiefel tragen, um im Bühnensee die Lackschuhe nicht zu nässen. Groteskes Theater auch nach dem Theater.
Aber was macht unser altkluger Zauberlehrling Harry Potter nun eigentlich in der Wozzeck Groteske? Er darf das Kind von Wozzeck und Marie sein, das für jeden Akt das entsprechende Thema an die Wände des leeren Zimmers, in dem das unglückliche Paar haust, schreibt: „Papa“, „Geld“, „Hure“. So ist doch zu guter Letzt unser armer B.B. mit seiner Sucht zur plakativen Belehrung sogar in der Märchen- und Zauberwelt eines Harry Potter angekommen. Oder will uns die Regie so ganz nebenbei noch suggerieren, dass aus Sinnlichkeit und Irrsinn, aus der Sinnlichkeit der Marie und dem Irrsinn eines Wozzeck, Literatur entsteht, dass der Wozzeck ein Intertext für die Harry Potter Romane ist und beide doch nur Phantastereien sind? Das ist vielleicht ein bisschen weit hergeholt. Wie dem auch sei. Wenn man Irrsinn und Groteske, Hoffnungslosigkeit und Leiden auf der Bühne sehen, wenn man grandiose Sängerschauspieler erleben will, dann sollte man zum Münchner Wozzeck gehen. Wenn man eine perfekt angerührte Mischung aus Brecht- und Traumspiel Ingredienzien mag und nichts gegen die Klänge eines Alban Berg hat, dann kann man in München einen großen Opernabend erleben.
Wir sahen die zweite Vorstellung – in der Premierenbesetzung. Die Premiere war am 10. November 2008.