In Wien – so liest man es in Wiener Tageszeitungen – sind Experimente mit der Fledermaus verpönt und wohl erst recht dann, wenn das experimentierende Produktionsteam nicht aus dem Land der Habsburger stammt. Ja, da erkühnen sich doch tatsächlich der Dirigent Cornelius Meister und der Regisseur Philipp Himmelmann am ‚geweihten Ort’, am Ort der Uraufführung der Fledermaus, im Theater an der Wien, diese gänzlich zu entstauben, die üblichen albernen Einlagen zu streichen, die Rolle des versoffenen Gefängniswärters Frosch ganz wegfallen zu lassen (die wenigen dramaturgisch relevanten Sätze des Frosch übernimmt der Dr. Falke gleich mit) und statt der Polka und des Walzers, auf die die konventionellen Inszenierungen nicht verzichten wollen, das Froschkönigballett, das Strauß für den zweiten Akt vorgesehen hatte, spielen und tanzen zu lassen. All diese Änderungen vermag der verknöcherte Fledermausanhänger gerade noch hinzunehmen. Ja, das dann aber auch noch die ehrwürdige Institution des Wiener Opernballs herabgezogen, zum Spielort für die Fledermausintrige gemacht wird und das noch dazu die zum Operball Eingeladenen ‚die Rache der Fledermaus’ spielen und zur Ouvertüre die Vorgeschichte der Fledermaus als Pantomime in Form eines Pfänderspiels in Szene setzten und der arme Dr. Falke sich unter dem Gelächter der ganzen Gesellschaft am Ende der Ouvertüre als Transvestit outen muss, ja eine solche Konzeption muss den Gralshütern der Straußoperette geradezu als Blasphemie vorkommen. Sei’s drum. Wir im Publikum haben uns trefflich amüsiert. Wir? Nein, nicht alle. Wer den im Grunde doch so einfachen Inszenierungstrick, die stringent durchgezogene Konzeption vom Theater auf dem Theater („Und wir alle spielten mit“) nicht mitbekommen hat, der Arme war gar übel dran – wie die ewig dazwischen schwatzende alte Dame neben mir, die ihre Fledermaus nicht mehr wieder erkannte oder wie das Liebespaar vor mir, das die Operette wohl als ein zu lang geratenes ‚Vorspiel’ verstand und seine Lust kaum ‚verdrängen’ konnte. Und dabei konnte man doch (ohne jeglichen Freudkomplex) so viel Spaß an dieser Inszenierung haben. Da wurde flott, ohne alles Scheppern, musiziert, da sang und agierte mit aller Spielfreude und noch dazu mit Selbstironie ein Ensemble der Spitzenklasse: da ist der gelangweilte Prinz Orlofsky die Karikatur seiner selbst (und den Countertenor karikiert er gleich noch dazu), da ist die Rosalinde eine selbstbewusste junge Frau, die ihren Mini-Don Giovanni das Fürchten lehrt. Adele ist kein Kammerkätzchen, sondern eine der Mitarbeiterinnen des Opernballs, die mal schnell in eine neue Rolle springt, der Gefängnisdirektor ist kein seniler Säufer, sondern ein dynamischer junger Mann, den sich der Spielleiter Falke für die entsprechende Rolle ausgesucht hat, der Sänger Alfred ist kein abgetakelter Knödeltenor, sondern ein Starsänger, der von der (fiktiven) Opernloge herab seine Rosalinde ansingt und anhimmelt und ihr, als er für den Ehemann die Arreststrafe antreten soll, vor Schreck und vor Lust auch schon mal unter den Rock kriecht, das berühmte ‚Ührchenduett’ wird mal nicht vor dem Vorhang gesungen, sondern als große Szene gestaltet, in der die ganze Operngesellschaft nach dem ‚Ührchen’ lechzt (die Symbolik ist mehr als eindeutig). Das Gefängnis gibt erst gar nicht. Nur ‚Winterstürme’, die Schnee in die Festgesellschaft hineinwirbeln, Schnee, in dem der Dr. Falke versinkt und zum Schrecken der Ballgesellschaft als eine Art Schneemonster wieder auftaucht. Doch der Schrecken ist nur von kurzer Dauer. Falke klopft sich den Schnee vom Smoking, und als Spieleiter bringt er die Intrige vom Möchtegern-Don Giovanni, der sich ‚in eigner Fessel fing’ auf dem Opernball zu Ende. Eine brillante Inszenierung. Mit anderen Worten: im Theater an der Wien ist zurzeit (bis zum 8. August) eine Fledermaus der absoluten Spitzenklasse zu sehen und zu hören. Wir sahen die Vorstellung am 17. Juli. Die Premiere war am 15. Juli 2010.