Die Leiden der missbrauchten Renata. Calixto Bieito inszeniert Prokofjew, Der feurige Engel an der Oper Zürich

Theatermacher Bieito, einst der berüchtigte Spezialist für Unterleibsgeschichten, die er mit einem befreienden oder auch grotesken Lachen aufzulösen pflegte, will vom Lachen nichts mehr wissen. Er hält es jetzt lieber mit einem humorlosen kruden Realismus – je härter und pathologischer, umso besser für die Inszenierung.

Hatte Barrie Kosky in München aus dem Feurigen Engel noch eine geradezu karnevaleske Parodie mystischer Verzückung gemacht und die Protagonistin Renata mit ihrer Sehnsucht nach Vereinigung mit dem feurigen Engel Madiel zur unheiligen Ekstatikerin gemacht, lässt Bieito jetzt in Zürich jegliche Referenz auf die Mystik beiseite und präsentiert eine hochgradig pathologische  Frau im Irrenhaus.

Bieitos Renata ist ein Missbrauchsopfer, dem als Kind auf einem Fahrrad (sic!) Gewalt angetan wurde. Mit dem Fahrrad spielt Renata in der ersten Szene, mit dem Fahrrad, das in der letzten Szene zum Feuerrad wird. Ihre traumatische Erfahrung sucht Renata mit einer phantastischen Geschichte vergebens zu sublimieren, mit der Geschichte von dem schönen Jüngling, der ihr erschienen sei, der sie, als sie sich mit ihm vereinen wollte, verlassen habe und den sie nun immerfort suchen müsste. Diese Geschichte erzählt sie einem zufälligen Besucher der Klinik, einem jungen Mann, der ihr verfällt, der in die phantastische Geschichte mit hinein gezogen, gleichsam co-abhängig und selber zum pathologischen Fall wird.

Die Klinik als Ort des Geschehens ist kein Sanatorium, kein Wiener Otto-Wagner-Spital, sondern ein kubusförmiger Bau mit übereinander liegenden Zellen, die durch ein Gewirr von stählernen Treppen verbunden sind, eine Art Piranesi Gefängnis, in dem irre Ärzte, die sich als Magier, Schauspieler und Exorzisten geben mit den Patientinnen, allen voran mit Renata, ihre Spiele treiben und diese dabei komplett in den Irrsinn treiben.

Aber vielleicht ist dieser Irrsinn, in den wir als Zuschauer pausenlos hinein gezogen werden, gar nicht ‚real‘ Ist all das, was wir da auf der Bühne sehen, nur ein Produkt der pathologischen Imagination der Renata, spielt sich alles nur im Kopf der Protagonistin ab? Der Zuschauer mag sich die ihm genehme Antwort suchen.

Und wer ist eigentlich dieser geheimnisvolle feurige Engel? Eine Frage, die die gängigen Inszenierungen offen lassen. In Zürich weiß Calixto Bieito die Antwort, und diese ergibt sich ganz konsequent aus der Grundkonzeption der Inszenierung. Wenn dem Kind Renata Gewalt angetan wurde, wenn Renata ein Missbrauchsopfer ist, dann kann der Täter nur der geheimnisvolle stumme ältere Herr sein, der hin und wieder durch die Szene geistert und zu dem sich Renata hingezogen fühlt: der eigene Vater hat das Kind missbraucht und die junge Frau mit ihrem Trauma und ihrer wilden Geschichte ins Irrenhaus abgeschoben, und dort wird sie weiter gequält. Alle Versuche der Sublimierung scheitern. Der Vater ist und bleibt „el oscuro objeto del deseo“(Bunuel).

So einfach ist das? Oder vielleicht auch nicht. Man mag dieses Sich-Suhlen im pathologischen Realismus als obsoletes naturalistisches Theater abtun. Doch grandios wird dieses Theater  alle Male in Szene gesetzt, und grandios und bewundernswert  als Sängerin und Schauspielerin ist Ausrine Stundyte in der Rolle der Renata.

Wir sahen die Aufführung am 12. Mai 2017, die zweite Vorstellung nach der Premiere am 7. Mai 2017.