Man verstehe uns nicht falsch. In Zürich ist ein exquisiter Monteverdi zu hören und zu sehen. Die berühmte „Orchestra La Scintilla“, das Ensemble für Alte Musik des Zürcher Opernhauses, zelebriert Monteverdi auf historischen Instrumenten. Berühmte Sänger wie Kurt Streit, Sara Mingardo, Julie Fuchs singen und agieren als Ulisse, Penelope und Melanto, und ein großes Ensemble steht ihnen kaum nach. Ein berühmter Theatermacher wie Willy Decker, von dem wir schon so manche subtile und durchdachte Inszenierung gesehen haben, bietet jetzt auch in Zürich wieder ‚Regietheater‘ vom Allerfeinsten.
Und doch – so schien es mir – lag über der Aufführung eine geradezu bleischwere Langeweile (In der Reihe vor mir der junge Mann schlief gleich drei Mal ein und ließ jedes Mal sein Programmheft geräuschvoll fallen. Neben mir die ältere Dame gähnte unaufhörlich. Hinter mir das klassische Schwyzerdütsch bis in die ersten Takte hinein). Eine Langeweile, die sich nur schwer erklären lässt. Vielleicht hätte man, statt die ‚gefährlichen Längen‘ der „Zürcher Fassung“ auszuspielen, sich doch wie Christophe Rousset und Claus Guth am Theater an der Wien um der Theaterwirksamkeit willen für eine Strichfassung entscheiden sollen. Vielleicht hätte man wie beim Kölner Ulisse mehr auf das Komödiantische, auf das Karnevaleske des Stücks setzen sollen. Immerhin wurde die Oper ja einst in Venedig zum Karneval aufgeführt. Vielleicht hätte man wie in Köln und in Wien eine aktualisierende Version des Mythos erarbeiten können? Ich weiß es nicht.
Der Zürcher Ulisse ist kein Vietnam Veteran, der in ein Pop Art Amerika zurückkehrt, dort mit dem Schnellfeuergewehr herumballert und sich aus dem kleinen Reihenhäuschen der Penelope schnell wieder davonmacht. Der Zürcher Ulisse ist auch kein vom Kriege Traumatisierter, der zur Heilung das Spießerglück am Kamin braucht. Von all diesem modischen Kram will man hier nichts wissen. In Zürich spielt man barockes Welttheater in den Kostümen von heute. Barockes Welttheater, das den ersten Satz des Prologs „Mortal cosa son io“ als Motto und Generator nimmt und den Menschen als Spielobjekt einer gelangweilten sich am Champagner verlustierenden Partygesellschaft, die sich Götter nennen, zeigt. Zwei angetrunkene Paare, die eine der Gespielinnen (im Libretto die Göttin Minerva) beauftragen, das Schauspiel der Heimkehr des Odysseus mit eben demselben in der Hauptrolle und einem großen Ensemble von Mitspielern zu arrangieren. Und so spielen denn die Menschen auf einer kreisrunden Scheibe ihre kleinen Geschichten: sie lamentieren als Penelope (in Kostüm und Maske die Witwe eines Mafioso aus dem neorealistischen Kino), sie freuen sich als Melanto und Eurimaco am Flirten und an vorsichtigen Sexübungen (wie ein Paar in einer amerikanischen Filmkomödie), sie fressen und saufen, wollen Lästige erschlagen und werden erschlagen und stehen doch wieder auf. Halten die Wirklichkeit für Schein und den Schein für Wirklichkeit. Und alles ist doch nur Theater – den Göttern zur Lust. Jupiter und Neptun nebst ihren beiden Gespielinnen hocken im Hintergrund auf der Festtafel, geben die Stichworte, lassen Kostüme vom Himmel fallen, reichen den Bogen und die Pfeile, beschließen ein happy end und verschwinden in der Versenkung. Ein happy end? Die Musik will es offensichtlich so. Vielleicht auch die Regie, wenn sie das ‚hohe Paar‘ zum Schlussduett sich im Nachsommer Stil umarmen lässt? Ulisse und Penelope ein glückliches Paar? Die Regie doktriniert nicht. Sie lässt den Schluss offen.
Die Weltenbühne, el gran teatro del mundo, ist eine runde Scheibe, die sich dreht. Menschen betreten die Scheibe, verlassen sie wieder, und die Götter schauen gelangweilt zu, spielen mit den Menschen – aus Langeweile. Und das Publikum schaut zu – aus Langeweile. Eine Deutung aus dem Geiste des Barocks? Oder vielleicht doch eine Deutung aus dem Geiste des Nihilismus?
Wir sahen die Aufführung am 1. Juni 2014. Die sechste Vorstellung in dieser Inszenierung. Die Premiere war am 17. Mai 2014.