Bei Donizetti, so weiß man es doch bis zum Überdruss, braucht es zwei oder drei große Belcanto Stimmen, und ein erfolgreicher Opernabend ist garantiert. Wenn wie jetzt in Amsterdam alle vier tragenden Rollen höchst brillant besetzt sind und dann noch dazu die Regie über eine tragende, schlüssige und einsichtige Konzeption verfügt, dann ist fürwahr italienische Oper vom Allerfeinsten zu erleben.
Die Geschichte der armen Lucia als Traumerzählung oder Wahnvorstellung in Szene zu setzen, das ist zwar nicht unbedingt originell. Das ist ein Ansatz, der sich fast von selber anbietet. Doch mit welcher Konsequenz dieser Lucia Albtraum in Amsterdam auf die Spitze getrieben wird, das ist schon sehr beeindruckend: eine schon moribunde, verstörte Lucia, von Kostüm und Haartracht eine Präraffaelitin, wacht in einem großen Bett auf, das mitten in einer Art Empfangssaal steht. Um ihr Bett herum sind ihr ähnliche, lebensgroße, halb zerstörte Puppen gruppiert. Lucia erlebt ihre unglückliche Liebesgeschichte als eine Art Hexensabbat: der schwarz gelockte, schöne Jüngling Edgardo ähnelt einem gefallenen Engel. Und wenn er Lucia zum Abschied aufs Bett drückt, dann ereignet sich keine romantische Liebesszene. Dann wiederholt sich Füsslis Nachtmahr. Der romantische Liebhaber als Luzifer und Macho und – nicht genug damit – als Incubus? Der Pfarrer, der Lucia zur Hochzeit drängt, vom Outfit her ein anglikanischer Priester, agiert wie ein lüsterner Mephisto. Nur konsequent ist es dann, dass die Hochzeitsgesellschaft, in ihren grotesken Masken wohl auf dem Weg zur Walpurgisnacht, Lucia nicht als Braut, sondern als Schwarze Witwe einkleidet und als pervertierte Mater Dolorosa im Triumphzug mit sich führt.
In dieser Amsterdamer Lucia gibt es nicht mehr die romantische Liebe als Passion, die egozentrische Leidenschaft bis in den Tod. Hier erlebt eine junge Frau die Passion als Hölle. Und diese Hölle bereiten ihr alle – vom machohaften Liebhaber über den bösen Bruder bis hin zum Mephisto Pfarrer. Und diese Hölle bereitet sie sich nicht zuletzt auch selber. Eine zerstörte Puppe, vollkommen eingesponnen in ihren Wahn, aus dem es keinen Ausweg gibt.
Eine Inszenierung, die in den Kostümen ein pseudoromantisches Schottland zitiert – wohl als Zugeständnis an die traditionellen Opernbesucher und die doch mit Verweisen auf Literatur und Malerei die zeitlose Geschichte von der Zerstörung und Selbstzerstörung einer aus ihren Imaginationen lebenden jungen Frau erzählt – und dies alles mit den wundersüßen Donizetti Klängen und einem berückenden Belcanto.
Madame Bovary und deren Nachfolgerinnen habe ich nicht im Publikum gesehen. Die niederländischen Damen sind wohl nicht von der Krankheit des Lektüreschadens infiziert. Aber vielleicht der eine oder andere unter den Jünglingen? „Madame Bovary, c’est un homme“, bemerkte einst Baudelaire.
Wir sahen die Aufführung am 21. März 2014.