Eine banale Beobachtung: Opéra National de Paris und Wiener Staatsoper spielen in derselben Liga: Sängerstars der internationalen Opernszene, aufwendiges und teures Ausstattungstheater – meist im traditionellen Zeffirelli Stil – exorbitante Kartenpreise, Touristen, die den Event, Melomanen, die den Kick suchen (den ‚Orgasmus in der Opernloge‘, hätte wohl Stendhal gesagt), ältere Damen und Herren im Ruhestand, die seit vielen Jahrzehnten ihr Abonnement in der Staatsoper haben und nicht zu vergessen die Queers, die für Sängerinnen mittleren Alters schwärmen. Und wie es sich für Häuser in dieser Preisklasse gehört: grandiose, exzellente Aufführungen, wenn man Glück hat – unsägliche, abgespielte Flops, wenn man Pech hat.
Wir hatten dieses Mal Glück. Die Neuproduktion von Les Troyens ist ein großes Spektakel – ganz wie es sich für eine Grand Opéra gehört – die Hauptrollen sind mit Joyce DiDonato als Dido, Brandon Jovanovich als Aeneas und Anna Caterina Antonacci als Kassandra hochkarätig besetzt. Sie alle drei sind Sängerschauspieler, wie man sie sich besser und überzeugender kaum vorstellen kann. Und dabei sind die beiden Damen von Spiel und Bühnenerscheinung her noch dazu große Tragödinnen, die eine als verzweifelte, verlassene Geliebte, die andere als verzweifelte, unverstandene Seherin. Aeneas kann durchaus mit den beiden mithalten. Dieser Aeneas, wie ihn Brandon Janovich verkörpert, ist kein Jammerlappen, sondern – ganz wie es das Libretto von ihm verlangt, ein Machthaber, der die ihm aufgetragene Mission erfüllt.
Der Orchesterklang steht den so herausragenden Stimmen in nichts nach. In den großen Liebesszenen und nicht minder in den Balletteinlagen nimmt sich das „Orchester der Wiener Staatsoper“ unter der Leitung von Alain Altinoglu ganz zurück, musiziert so sanft und elegisch, ohne je ins Süßliche zu verfallen, trumpft dann wieder in den Massenszenen auf. Die aufmerksame Zuhörerin ertappt sich dabei hin und wieder bei dem Gedanken, dass es neben der Wagner Droge wohl auch eine Berlioz Droge gibt und dass man auch dieser leicht verfallen könnte. Oder sagen wir es ganz einfach: in der Wiener Staatsoper wird in Orchesterklang und Stimmen ein geradezu ‚rauschhafter‘ Berlioz geboten.
Und die Inszenierung? Berlioz selber nennt sein Werk im Untertitel „Grand Opéra“. Die Regie (David McVicar) nimmt diese Bezeichnung ernst und verhält sich in ihrer Grundkonzeption entsprechend. Ja, man muss sie halt mögen die „grand opéra“. Die „grand opéra mit ihren unglücklich Liebenden und ihren Staatsaktionen nebst Mord und Totschlag und Selbstmord, mit ihren Massenszenen, ihren Balletteinlagen, ihren Historienschinken, ihrem Dekorations- und Ausstattungstheater, ihren Kostümfesten, mit einem Wort: mit ihrem Hang zum großen Spektakel, koste es, was es wolle.
Wer das alles mag, der kommt bei Les Troyens in Wien auf seine Kosten. Gespielte Zeit ist nicht der mythisch so ferne Krieg um Troja. Gespielte Zeit ist, den Uniformen der Militärs nach zu urteilen, die Entstehungszeit der Oper, das Zweite Kaiserreich. Die von einem unsichtbaren Feind bedrängten ‚Franzosen‘ haben sich in eine Art Gasometer zurückgezogen. Das Trojanische Pferd, das ihnen die Feinde zurückgelassen haben, ist ein riesiges, aus allerlei Kriegsgeräte Schrott zusammengebautes Monster, das drohend rot und blau blinkt. Erst im Finale des ersten Teils, wenn die Trojanerinnen (Pardon, die Französinnen?) unter der Anleitung Kassandras sich in den kollektiven Selbstmord stürzen, tauchen ein paar feindliche Soldaten auf. Britische Soldaten, weil sie als Rotröcke daher kommen?
Im zweiten Teil sind wir, ganz wie es das Libretto und ganz wie es die von der Regie gewollte Zeitversetzung wollen, in Nordafrika. Kein Problem für die dort gelandeten Trojaner (Pardon, Franzosen), in einen Kolonialkrieg einzugreifen und die die Kolonie der Königin Dido bedrohenden Eingeborenen in die Flucht zu schlagen. Doch anders als man es nach dem mitunter das Komische und das Peinliche streifenden Hyperrealismus, der die beiden Kassandra Akte bestimmte, erwarten konnte, drängt vor allem im vierten Akt die Regie alles ‚Realistische‘ zurück. Jetzt sind wir in einer Traumwelt oder auch in einer orientalischen Phantasiewelt: Kämpfe, Geistererscheinungen und auch die erste Liebesbeziehung zwischen Dido und Aeneas ereignen sich im stilisierten mimischen Tanz. Das berühmte Duett zwischen Dido und Aeneas im Finale des vierten Akts gerät dabei in Orchesterklang, Gesang und Szene zu einem Traumbild, zu einem geradezu hypnotisierenden Traum. Der vierte Akt –so schien es mir – ist in Musik und Szene der bei weitem gelungenste Teil der Aufführung. Hier passte alles zusammen. Hier stand alles mit allem im ‚Einklang‘. Wenn es eine Berlioz-Droge gibt, hier wurde sie dem Publikum geradezu aufgedrängt.
Der letzte Akt verfällt dann leider wieder in den Hyperrealismus. Oder sagen wir einfach: in den Hollywood Stil des Breitwand Kinos. Einen Trost für die Melomanen gab es immerhin. Joyce DiDonato hat noch – vor dem geschlossenen Vorhang eine große Szene. Hinter dem Vorhang baute man inzwischen noch schnell einen lächerlichen Haufen Reisig auf, auf den die Diva in der Schlussszene klettern und sich entleiben darf. Und während ihre ganz in schwarze Tücher gekleideten Untertanen (Syrer? Palästinenser? Tunesier?) nach Rache schreien, wird noch einmal das Kriegsmonstrum herein geschoben. Hollywood Finale in der Wiener Staatsoper.
Nein, so darf man es nicht sagen. Sagen wir lieber: eine wunderschöne, zum Träumen verführende Musik, die geradezu nach Berlioz süchtig macht, wurde im Stil der Grand Opéra des 19. Jahrhunderts bebildert. Wer die Bilder nicht mochte, der musste halt die Augen schließen.
Wir besuchten die Vorstellung am 1. November 2018, die „5. Aufführung in dieser Inszenierung“. Die Premiere war am 14. Oktober 2018.
Am nächsten Abend hatten wir noch einmal Glück. Auf dem Programm steht eine Wiederaufnahme, eine Übernahme aus Zürich: Homokis Lohengrin Inszenierung, die wir vor vier Jahren dort schon gesehen – und im Netz kommentiert haben: Elsa und Lohengrin auf dem Dorfe im Kampf gegen den Obermacho der Trachtendörfler. Nicht unbedingt eine der stärksten Arbeiten des von mir sonst sehr geschätzten Theatermachers.
Auf der Bühne in Wien teilweise dieselbe Besetzung wie damals in Zürich. Doch anders als in Zürich, wo Klaus Florian Vogt die Hauptrolle sang, singt jetzt in Wien Andreas Schager den Lohengrin. Es sei, so liest man in den einschlägigen Blättern, sein Debüt in dieser Rolle.. Natürlich ist Schager, den wir schon so manches Mal in Wagner Partien erleben durften, auch ein exzellenter Lohengrin. Dass er die Rolle nicht so lyrisch und ‚überirdisch‘ wie Vogt anlegt, sondern eher auf das ‚Heldische‘ setzt, das ist Interpretationssache. Schager ist halt eher ‚irdisch‘. Und das passt in diesem Fall gut zur Inszenierung, die von ihrem Lohengrin ja ein bäuerliches Auftreten verlangt.
Wie dem auch sei. Am 2. November 2018 erlebten wir einen großen Wagner Abend in der Wiener Staatsoper.