Hat man zuletzt die Norma in der Christof Loy Inszenierung in Frankfurt gesehen, dann glaubt an sich in Karlsruhe in der ‚Welt von Gestern‘. Ein monumentales Bühnenbild – vielleicht der Vorhof eines Renaissancepalasts, eine Art schräg gestellter Laufsteg für die großen Auftritte, lange Festtafeln, ein Holzbock zum Köpfe abschlagen, eine Galerie, vor der der Sprecher und Intrigant des Königs über den Schauprozess gegen Anna Bolena und ihre Vertrauten die Höflinge informiert. Prachtvolle, teuere Kostüme für Choristen und Solisten. König Heinrich VIII. ähnelt von Kostüm und Maske her dem bekannten Staatsportrait. So als sei das Portrait lebendig geworden. Gleich zur Ouverture ein großes Kostümfest für Choristen und Bewegungschor – und eine Sturzgeburt der Königin (Ach ja, die Anna Bolena ist ja die Mutter der Elizabeth, die der Maria Stuarda den Kopf abschlagen ließ. Dies wissen wir noch von Donizettis Maria Stuarda).
Die in Großbritannien hochberühmte Theatermacherin, Irena Brown, hat es an nichts fehlen lassen, um eine große Ausstattungsoper in Szene zu setzen: Anna Bolena als Grand Operá, spektakulär und museal zugleich, ein Kostümfest, das anders als der aktualisierende Minimalismus, zu dem Loy in Frankfurt die Norma geformt hat, weder anrührt noch gar bezaubert. Eine Anna Bolena Inszenierung, die das Stück, obwohl es doch hier ganz zeitlos um Gewalt und Betrug, Gier und Passion geht, weit von uns rückt, ins Museum der Geschichte. Da hilft auch nicht viel, wenn die Regisseurin – im Programmheft – der Anna Bolena einen Genderdreh, besser gesagt: einen feministischen Touch verpassen will. „Sie war einer der hellsten Köpfe ihrer Zeit und hätte mit Sicherheit gegen den Brexit gestimmt“. Nun ja, das mag vielleicht für die historische Person zutreffen. In der Oper ist Anna Bolena eine leidende Frau, eine „Leiche“, schon von Anfang an.
Rettung vor leicht aufkommender Langeweile oder Überdruss, die mitunter die Inszenierung bewirkt, bringt allein die Musik, konkret der Belcanto. Und auch hier in Karlsruhe – vielleicht nicht ganz so exquisit wie in Frankfurt – erklingt Belcanto der Spitzenklasse, sind wunderschöne Stimmen zu hören. Allen voran Anna Bolena in der Person der Ina Schlingensiepen und Giovanna Seymour in der Person der Svitlana Sylvia, die kurzfristig für die erkrankte Ewa Plankol eingesprungen war. Letztere war immerhin szenisch präsent.
Gegenüber den so brillanten Frauenstimmen (die Feuilletonisten würden jetzt wohl von „ausdrucksstark und passioniert, von glockenreinem Sopran“ schwärmen) haben es Bariton und Tenor wie wohl immer bei Donizetti oder Bellini schwer. Und ihre Rollen als brutaler und sexgeiler König – so der Bariton in der Person des Nicholas Brownlee bzw. als verstoßener Liebhaber und Jammerlappen – so der Tenor in Person des Eleazar Rodriguez – machen sie ja nicht gerade zu sympathischen Helden, Wenn es um den Publikumspreis ginge, ihn gewänne Anna Bolena spätestens im Finale in ihrer Wahnsinnsszene. Da wird sie von Stimme und Spiel zu einer anrührenden Gestalt, fürwahr eine Schwester der Lucia – im Geiste der Musik.
Ein „grossartiger Abend“, ja, wenn man der Musik lauscht und manchmal vor der Szene die Augen verschließt. Wie dem auch sei. Dem Publikum hat es gefallen. Ein großer Erfolg für die Oper in Karlsruhe.
Wir besuchten die Aufführung am 20.06.2018