Ich weiß nicht, welch gütige Fee – war es Elsa, Sieglinde, Eva oder vielleicht gar Cosima? – mir zwei Karten ganz vorn im Parkett für die Premiere der Meistersinger beschert hat und gleich noch dazu Tristan, Parsifal und den Ring. Sei’s drum.
So sitze ich denn in der dritten Parkettreihe, lausche einer geradezu kammermusikalisch gedämpften Ouvertüre und werde gleich beim ersten Bild von der Musik abgelenkt. Wir sind nicht in Nürnberg in der Kirche. Wir sind in Wagners Salon in der Villa Wahnfried. Da kommt auch schon Richard mit seinen zwei Hunden herein, Cosima hat Migräne, der alte Liszt mit seiner grauen Mähne gesellt sich dazu, und Kapellmeister Levi ist aus München angereist. Auch der junge Wagner ist, da und natürlich sind auch die Wagnerkinder versammelt. In Kostüm und Maske kleine Richards. Sie alle werden gleich Theater spielen, werden die Meistersinger spielen und singen. Keine Frage, dass Richard selber die Hauptrolle übernimmt. Seinem Alter Ego fällt die Rolle des Walther von Stolzing zu, und dazu darf er schon mit Cosima /Eva ein bisschen flirten. Liszt wird Pogner. Kapellmeister Levi, mag er sich auch noch so sträuben, wird die Rolle des Beckmesser aufgedrängt. Er muss den Outsider geben, der schon beim protestantischen Choralgesang nicht mitmachen will – er ist eben Jude.
‚Theater auf dem Theater‘, so mag man mäkeln, das ist doch ein alter Hut. Das kennen wir doch zu genüge. Doch bei Barrie Kosky, der die Inszenierung verantwortet, da wirkt das so abgenutzte Klischee nicht verstaubt. Da wirkt es frisch und neu. Da wird der Salon der Villa Wahnfried zur Bühne für eine grandiose Komödie – mag sie auch manchmal die Klamotte streifen. Da tupft der junge Wagner alias Stolzing indigniert seine weiße Hose ab, auf die ein temperamentvoller David (auch er in Maske und Kostüm ein jugendlicher Wagner) Kaffe gespritzt hat. Da klettern die kleinen Meister in prachtvollen Renaissance-Kostümen aus Wagners Flügel heraus. Da stürzen die Lehrbuben wie Heinzelmännchen lärmend in den Salon herein, da gibt sich Liszt/Pogner (auch er jetzt im Renaissance-Kostüm) eitel und großbürgerlich, und Wagner/Sachs in seiner Doppelrolle als Schauspieler und Theatermacher bleibt gravitätisch und selbstbewusst. Sie alle spielen mit Begeisterung große Komödie für den Meister. Und der Meister ist mitten unter ihnen.
Im Finale, als alle sich so richtig austoben, überrascht die Regie mit einem Gag, bricht die Komödie auf, leitet über zur schwarzen Komödie: die Guckkastenbühne mit Wagners Theatervolk und seinem Salon schiebt sich in die Hinterbühne. Die Vorderbühne wandelt sich zum Vorraum des Nürnberger Kriegsverbrecher Tribunals. Wagner, der große Komödiant, das „Schauspieler-Genie“, wie Nietzsche ihn karikiert, inszeniert seine negative, seine pervertierte Rezeption gleich mit. Eine Perversion, die sich im zweiten und dritten Aufzug zur Judenhetze steigern wird und die dann doch im Finale Absolution durch die Kunst erlangt.
Objekt des Spotts und der gesellschaftlichen Vernichtung ist Beckmesser alias Kapellmeister Levi, der bei allen seinen Auftritten gleichsam vorgeführt wird. Die berüchtigte Prügelszene im Finale des zweiten Aufzugs, die die einen als platt-realistisch und andere als deutsches Märchenballett mit Gebrüder Grimm-Figuren in Szene setzen, macht Barrie Kosky in seiner Version zur Pogrom-Nacht, in der Levi/Beckmesser als ‚ewiger Jude` karikiert wird und in der die Nürnberger Bürger zu einer hasserfüllten Horde werden, die gegen einen einzelnen ‚die Sau raus lassen‘.
So spektakulär diese Szene auch ist, so dürfte sie doch in ihrer schon grotesken Überzeichnung ihren Zweck verfehlen. Von Wagners Antisemitismus haben auch die unbedarftesten Wagnerianer schon mal gehört. Und dass der jüdische Kapellmeister Levi trotz all seiner Verdienste um Wagners Musik vom Wagner-Clan nicht angenommen wurde, auch dies dürfte dem Interessierten nicht unbekannt sein. Seltsam, dass ein so großer Theatermann wie Kosky beinahe verdrängt, dass die Beckmesser Figur in den Meistersingern doch primär eine Komödienfigur ist, der man, soll sie ihre Funktion innerhalb der Komödie nicht verlieren, nicht so starken ideologischen Ballast aufladen darf, aus der man nicht unbedingt so plakativ den ewig geschundenen Juden machen sollte, um dem Publikum Wagners Antisemitismus um die Ohren zu schlagen. Vielleicht ist das Finale des zweiten Aufzugs die schwächste Szene in einer von der Konzeption und deren Umsetzung ansonsten so gelungenen und beeindruckenden Inszenierung.
Das Antisemitismus Thema als Bestandteil der Wagnerrezeption wird auch im dritten Aufzug wieder aufgenommen. Szene ist jetzt der Gerichtssaal der Nürnberger Prozesse. Im Gerichtssaal dichten Wagner/Walther und Wagner/Sachs das Preislied. Die Festwiese, auf der das Volk und Wagner sich selber feiern, wird dabei gleichsam zum Tribunal, in dem der gedemütigte und vernichtete Jude im Wortverstande abgeführt wird, zum Tribunal, in dem das Volk seinem neuen Star Walther – in Kostüm und Maske eine Mischung aus jungem Wagner und Luther zujubelt und ihm – im Wortverstande – hinterher rennt: „Wagner ein Verführer großen Stils […] Die Musik als Circe“ (Nietzsche).
Wagner/Sachs hält seine Rede auf die deutsche Kunst vor leerem Saal. Alles Gestühl, alle Insignien des Tribunals sind verschwunden. Das Tribunal und der Antisemitismus und Wagners pervertierte Rezeption sind Geschichte, sind verdrängt, haben vielleicht nie existiert. Was aber bleibet, das stiften Musik und Kunst. Zum Finale dirigiert Wagner sein Orchester auf der Bühne, ein imaginiertes lautloses Orchester, während das ‚unsichtbare Orchester‘ im Graben dem Publikum noch einmal die Wagnerdroge hinauf reicht.
Eine grandiose Inszenierung, großes Theater, brillante Solisten auf der Bühne (allen voran Michael Volle als Hans Sachs, Klaus Florian Vogt als Walther von Stolzing, Johannes Martin Kränzle als Beckmesser), ein Orchester, das unter der Leitung von Philippe Jordan wundersam musiziert. Mit anderen Worten: ein Fest des Musiktheaters, wie man es sich nicht besser wünschen kann. Und Ihr könnt sagen, Ihr seid dabei gewesen.
Wir sahen und hörten die Premiere am 25. Juli 2017.