In der vergangenen Woche hatten wir Gelegenheit, gleich zwei Barrie Kosky Inszenierungen zu sehen: den Feurigen Engel in München und die Carmen in Frankfurt. Beide Male ein exzellentes Opernvergnügen.
Der ‚bekennende Kosky Fan‘, und zu diesen zähle ich mich gerne, weiß, was ihn erwartet. Er erkennt den Stil des Berliner Theatermachers unschwer wieder: Inszenierungen gegen den Strich, neue, ungewöhnliche Deutungen scheinbar so bekannter Werke, Vermischung der Gattungen von Oper, Tanztheater und Revue, Überlagerung von Sublimem und Groteskem, von Tragischem und Komischem, von Parodie und scheinbarer Ernsthaftigkeit, von ‚Realität‘ und Traum. Alles ist Theater, maraviglia und stupore – mit implizitem Verweis auf die Ästhetik des Barocktheaters und die Hollywood Shows.
Da hat – so ergeht es dem Hotelgast im Feurigen Engel – da hat es sich der Gast im Luxuszimmer gerade mit der Wodkaflasche gemütlich gemacht, als eine (vielleicht?) verrückte Frau unter dem Bett hervor kriecht und vollkommen durchgedreht und hektisch von einem Engel erzählt, der sie schon seit ihrer Kindheit besuche und den sie unbedingt wieder treffen müsse. Eine Verrückte, eine Betrunkene, eine Besessene? Oder ist diese Renata, wie sie sich nennt, nur ein Albtraum, eine Traumfigur, die den armen Ruprecht im Halbschlaf heimsucht ? Sind die schwulen glatzköpfigen Tänzer, die da in langen Frauenkleidern plötzlich hereinstürzen , wirkliche Figuren oder Traumgespinste? Sind Faust und Mephisto, der eine in Strapsen, der andere im Ballerina Röckchen , ‚ reale‘ Schauspieler, die Ruprecht einladen, mit ihnen auf Tournée zu gehen, oder sind sie groteske Produkte einer überreizten, vom Wodka vernebelten Phantasie? Der Reisende wird immer mehr in den Wahn der rätselhaften Frau hineingezogen, wird gleichsam koabhängig. Ist der Exorzismus, die Teufelsaustreibung , der sich Renata inmitten von Nonnen unterzieht, von ‚Bräuten Christi“, die sich alle als Jesus mit der Dornenkrone ausgeben, nur der Höhepunkt aller Albträume oder ein Spektakel, das eigens für Ruprecht als Zuschauer inszeniert wird?
War das nun Traum und Wahn, Delirium und Besessenheit, was uns als Publikum da über zwei Stunden lang auf der Bühne vorgeführt wurde? War es eine Parodie auf die Mystik, die da in Szene gesetzt wurde, eine Parodie auf die berühmte Verzückung der heiligen Teresa, der spanischen Mystikerin , die zu erleben glaubte, dass ein Engel sie mit einer Lanze durchbohrt und ihr dabei höchstes Wohlgefallen bereitet hätte? Oder hat Barrie Kosky eine Psychostudie in Szene gesetzt und dabei seiner überbordenden Imagination freien Lauf gelassen ? Oder ist alles eine Hommage an die grotesken „Phantasiestücke“ eines E. T. A. Hoffmann? Wie dem auch sei. Der Feurige Engel an der Bayerischen Staatsoper ist ein Ereignis. Und dies nicht nur ob der brillanten Inszenierung, sondern auch wegen der exzellenten Sängerdarsteller: Ausrine Stundyte als Renata und Evgeny Nikitin in der Rolle des Ruprecht.
Wir sahen die Aufführung am 22. Februar 2017.
Und Carmen? So wild und besessen wie im Feurigen Engel geht es in Koskys Frankfurter Carmen nicht zu. Natürlich zieht der Testosteron gestörte Trottel von José im Finale sein Taschenmesser und sticht das Weib, das ihm partout nicht zu Wiilen sein will, ab – ganz wie der Torero im selben Augenblick seinen Stier absticht. Das wollen nun mal Musik und Libretto so.
Die Messerstecherei ist die einzige traurig-tragische Szene des Stücks – die überdies gleich wieder zurück genommen wird. Kaum ist der letzte Akkord verklungen, steht Carmen wieder auf und grüsst mit Grandezza das Publikum. Alles war doch nur Theater, eine dramatische Erzählung aus einem fernen exotischen Spanien, die Carmen mit sich selber in der Hauptrolle schon so viele Male erzählt und gespielt hat und die Theatermacher Kosky unter Verwendung von Spanien Klischees als Hollywood Revue in Szene setzt.
In der Tat ist die Frankfurter Carmen zugleich Revuestar und Erzählerin. Da sitzt sie zur Ouvertüre im Torero Kostüm auf der den ganzen Bühneraum einnehmenden Treppe, erzählt den Anfang der Carmen Geschichte und wird im Laufe des Abends als Stimme aus dem Off mit Auszügen aus dem Libretto und Mérimées Novelle die Handlung vorantreiben. Ein Kunstgriff der Regie, der die gesprochenen Dialoge, wie sie die opéra comique verlangt, überflüssig macht.
In Koskys Carmencita Revue wird gesungen und getanzt, spielen Tänzer und Tänzerinnen pantomimisch mit, sind die Soldaten des Libretto zum singenden ‚Bewegungschor‘ , der um die Protagonistin herum schwänzelt, geworden und die Schmuggler des Libretto zu singenden und tanzenden Zigeunern. Der Torero, wie er da gravitätisch unter dem frenetischen Beifall aller Umstehenden die breite Treppe herunter schreitet, ist ein Popstar, und Carmen in der Person der Gaëlle Arquez ist sowieso der absolute Star des Abends.
An der Oper Frankfurt ist eine Variante des Carmen Mythos zu sehen, die den Untertitel „opéra comique“ im deutschen Wortverstande nimmt, den Mythos von der spanischen femme fatale aufbricht und zur Komödie überformt, zu einer Komödie, der die gängigen Schemata des amerikanischen Revuetheaters übergestülpt werden.
Eine in jeder Weise gelungene Produktion, die das Publikum begeistert. Wir sahen die Aufführung am 23. Februar 2017, die 21. Vorstellung in dieser Inszenierung. Die Premiere war am 5. Juni 2016.