So viele Male haben wir Tschaikowskis „Lyrische Szenen“ nun schon gehört und in den unterschiedlichsten Inszenierungen gesehen. Die einen konzentrieren sich auf die Figur der Tatjana und stellen diese als die moderne „starke Frau“ heraus. Andere erzählen uns zur unglücklichen Liebesmär die russische Geschichte bis hin zu Putin gleich mit. Wieder andere wollen vom Leben auf dem Lande gar nichts mehr wissen und verlegen die Handlung in die Zeit des Moskauer Immobilien Booms der Jelzin Zeit. Und wieder andere machen aus den „Lyrischen Szenen“ eine Schwulenoper.
All dies sind mögliche Regiekonzeptionen, die – jede auf ihre Weise – mehr oder weniger verborgene Bedeutungsschichten des Werkes aufdecken. Doch der Onegin, wie ihn Barrie Kosky jetzt an der Komischen Oper in Szene gesetzt hat, lässt, so scheint es mir, alle anderen Deutungen vergessen, übertrifft sie alle an Poesie und Traum. Hier scheut die Regie sich nicht, romantische Liebe und Melancholie, Vergeblichkeit und Vergessen in den Mittelpunkt zu stellen und dies alles mit leichter Ironie, mit einer Ironie, die nicht verletzen, nicht bloß stellen will, wieder in Frage zu stellen.
Die Szene ist eine große sommerliche Wiese, die in einen lichten Laubwald übergeht. Aus dem Wald kommen die Akteure, und im Wald verschwinden sie auch wieder. Eine Idylle, ein scheinbare Idylle, die sich im tödlichen Streit zweier junger Männer und die sich im Frust und im Verzicht bei den Liebenden auflösen wird. Nichts von dieser Katastrophe, nichts von dieser Tristesse scheinen die ersten Szenen signalisieren zu wollen. Oder vielleicht doch? Zu Beginn kochen Larina, die Gutsbesitzerin, und die alte Amme Marmelade ein. Ein scheinbar banales Tun, das indes sowohl für das Geschehen als auch für die Regiekonzeption Symbolfunktion besitzt. Sehr süß ist diese Marmelade, von der die zwei jungen Mädchen, Tatjana und Olga, und bald auch die beiden jungen Männer, Lenski und Onegin, naschen werden. Alles zu süß? Mag sein. In ein Marmeladenglas, in ein leeres, wird auch Tatjana ihren Liebesbrief an Onegin stecken, einen Brief, den sie aus Seiten, die sie aus ihrem Lieblingsbuch herausgerissenen hat, gleichsam komponiert. Alles zu süß? Mag sein. Mit dem Marmeladenglas wird Onegin achtlos spielen, und eine von der ‚süßen‘ Liebe und zugleich von der Literatur desillusionierte Tatjana wird Marmeladenglas und Buch von sich werfen, irgendwohin auf die Wiese. Alles zu süß? Alles zu kitschig? Mag sein. Doch schön, schön ist diese herunter gekommene, diese ach so süße Romantik alle Male – auch wenn “die Liebe bitter schmeckt“.
Auf die ‚Ästhetik des Schönen‘ und nicht wie so viele Theatermacher auf die ‚Ästhetik des Hässlichen‘ setzt Barrie Kosky in seinem Onegin. Schön und elegant, nicht von der Realität berührt und erst recht nicht “von des Gedankens Blässe angekränkelt“ sind seine Bühnenfiguren – allen voran Tatjana und Onegin (in der Person der Asmik Grigorian und des Günter Papendell). Schön sind die Gäste im Palais des Fürsten Gremin, die sich zu Tablaux Vivants gruppieren. Das Landvolk scheint Genre Bildern entstiegen zu sein. Alles ist schön. Das Hässliche, wo es wie beim Duell das Libretto nun einmal verlangt, wird verdrängt. Das Duell ereignet sich im Wald, unsichtbar für die Zuschauer.
Allem haftet überdies ein Hauch von Unwirklichkeit und Traum an. Das Palais des Gremin ist ein Potemkinsches Haus, dessen Wände zum Finale einfach weggetragen werden. Und wieder ist die idyllische Sommerwiese da, auf der Tatjana in großer Robe und ein etwas herunter gekommener Onegin ihre Abschiedsszene zelebrieren, nein literarisieren, den Roman des melancholischen Verzichts und der erfolglosen Leidenschaft nachspielen. Alles ist schön, alles ist süß, alles ist doch nur Literatur, ist Illusion. Selbst der gewittrige Regen, der so plötzlich auf das Paar herabfällt, ist ein romantischer Regen. Vom Wasser als dem „ewigem Element luftiger Verschmelzung“ spricht Novalis. Oder will die Regie die „romantische Ironie“ bemühen? Die Liebe ist süß wie Marmelade. Doch ein Übermaß an Süße schafft nur Verdruss und Beschwerden. Und das gleiche gilt für das Wasser und seine erotische Valenz. „Zu viel! Zu viel! seufzte schon Tannhäuser im Venusberg. Und wir als Zuschauer genießen die Schönheit und das Leiden ‚der Anderen‘.
Wie dem auch sei. Schön ist die Szene. Wunderschön sind Orchesterklang und Gesang. Dieser Onegin ist ein Highlight an der Komischen Oper. Bei nächster Gelegenheit gehe ich noch einmal hin.
Wir sahen die Aufführung am 12. März 2016. Die Premiere war am 31. Januar 2016.